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Was geschieht mit dem „ICH“​ bei ausschließlich virtuellem „WIR“​?

Auch ich spreche lieber von #Abstandhalten als von #SocialDistancing – in Zeiten von Corona sollten wir uns nicht als soziale Wesen voneinander entfernen, wenn wir körperlich Abstand zueinander halten müssen. Doch gelingt uns das? Welche Erfahrungen machen wir mit der Virtualisierung sozialer Kontakte? Was macht es mit uns, dass wir nun weit weniger „geregelte Ablenkung“ auch von uns selbst haben? Welche Effekte treten ein, wenn Menschen, die vielleicht auch den Alltag bewusst so gestalten, dass sie nicht zuviel Zeit mit sich selbst verbringen müssen, gezwungen sind, sich dem eigenen Ich auszusetzen? Nach 14 Tagen Quarantäne beschäftigen mich diese Fragen, weil sie für uns Wissenarbeitende sicher auch Auswirkung auf Wege und Mobilität haben. Denn vielleicht legen wir manche Wege, die dem Klima schade, zurück, weil wir die Bewegung zur Ablenkung benötigen? In dem Falle hieße das erst recht, dass Mobilitätswandel nicht technisch vorangetrieben werden kann.

Aktuell erlebt unsere Gesellschaft, die viel von Hektik, Termindruck und dem Eilen von einem Termin zum anderen geprägt ist, eine Vollbremsung.
Auch die letzte Firma, in der es möglich ist, von zuhause zu arbeiten, hat ihre Angestellten nach Hause geschickt. Und ihre Präsenzkultur gezwungenermaßen aufgegeben. Dort warten neben zum Teil nur ungenügend eingerichteten Arbeitsplätzen, Kindern und Pflegebetreuung auch Menschen auf uns, die wir zuvor vielleicht gar nicht so genau kennenlernen wollten: Wir selbst. In einer Gesellschaft, in der Zeitdruck fast wie ein Statussymbol vor sich hergetragen wird, entsteht auf einmal auch aufgrund mangelnder Mobilität und Begegnung ein gewisses Vakuum im sozialen Gefüge. Das Grundrauschen sozialer Begegnungen fehlt. Die Interaktion mit anderen im Büro oder in der Freizeit, die uns hilft, uns selbst einzusortieren. Überstunden werden unsichtbar, lange Dienstreisen finden nicht statt. Der CEO ist momentan eben nicht wichtiger als die Person, die für ihn Waren im Regal einsortiert – und erst recht nicht als das unterbezahlte Pflegepersonal, das sich gerade für uns alle auf den Peak der Coronaerkrankungen vorbereitet.

Im Homeoffice ist es wiederholt „Gag“, nur in der Jogginghose und als Mann unrasiert am Schreibtisch zu sitzen. Warum machen wir das sonst nicht so? Warum wir das so von uns als Ausnahme zelebriert? Manche Mauern der Unerschütterlichkeit fallen zudem spätestens dann, wenn die kleine Tochter auf den Schoß des Gegenübers während einer Videokonferenz klettern will, oder die Katze im Hintergrund ein Wasserglas umstößt. Wir werden menschlicher – aber wir verlieren vielleicht auch ein wenig unser Koordinatensystem des Alltags.

Ein Team zu steuern, das ist nun mehr denn je gefordert, dennoch wissen wir: Nicht Jede:r in Führung kann das auch wirklich leisten.

Der Büroalltag überbrückt diese Fähigkeit nicht selten durch offizielle oder inoffizielle Bypass-Systeme, die jedoch nicht funktionieren, wenn das System komplett dezentralisiert wird. Und die Rollen, die für uns sonst unsichtbar sind, auf einmal wahrnehmbar werden.

Was macht das mit unserem neuen Büroalltag im Homeoffice? Und macht es etwas mit der Zeit danach?

Unser beruflicher Alltag ist bestimmt von vielen Rollen und Plätzen, die Hierarchie widerspiegeln und das soziale Gefüge prägen. Im Büro die strenge Chefin, zuhause die umsorgende Tochter, das sind keine Widersprüche, das sind aber Rollen, die sonst Jede für sich vielleicht auch bewusst nur in der Sphäre sichtbar werden lässt, in der wir diese Rollen ausüben. Das alles wird jetzt transparent und macht auch jene nahbar, die zuvor vermieden, nahbar zu sein. Denn nicht alles lässt sich in Zeiten der Quarantäne noch so organisieren, dass es wie bisher unsichtbar bleibt. Viele berichten mir in den ersten Tagen von diesem Teil der Corona-Zeit als Gewinn. Haben ein Lächeln im Gesicht, wenn die Chefin als halbe Löwin geschminkt in den Videocall kommt, weil die Tochter kurz vorher noch aktiv wurde, oder der Vater einen fetten Kakaofleck auf dem Hemd hat, weil der Nachwuchs ihn füttern wollte.

Was macht das mit unseren beruflichen Beziehungen? Und was ist mit dem Ich, dem es grad zumindest physisch am Wir mangelt? Geht es diesem gut, ohne die direkte Interaktion mit unserem Gegenüber? Was geschieht mit einem Machtsystem traditionell orientierter Unternehmen, das aller Statussymbole beraubt ist?

Aktuell gibt es keine besonders ausgestatteten (Einzel-)Büros, die zeigen, welche Hierarchiestufe eingenommen wird. Es spielt keine Rolle, welches Auto du fährst, teure Urlaube sind sogar untersagt. Die Interaktion im Videochat hat einen Charakter, der unweigerlich mehr Augenhöhe erzeugt als klassische Meetings mit gewohnten Sitzplätzen und Ritualen. Und die Zeit, die jetzt zu füllen ist, weil Reisen und Dienstreisen wegfallen, so beobachte ich, die macht was mit einigen von uns. Denn die unterschiedlichen Rolle, die wir im Leben einnehmen, schmelzen grad sehr stark zusammen durch die körperlich eingeschränkte Bewegung im sozialen Raum. Und es könnte sich – erfreulich wie erschreckend – herauskristallisieren, wer wir sind.

Nicht für die anderen, aber für uns selbst.

Unser Alltag ist ein beständiger Resonanzraum, der es introvertierten Menschen oft schwer macht, sich in ihm so zurechtzufinden, dass sie gesund bleiben können. Introvertierte müssen sich bewusst Rückzugsmomente und -orte schaffen, um aufzutanken. Denn sie brauchen die Stille und das „mit sich sein“, um Akkus wieder auf volle Leistung zu bringen.

Unsere Welt ist eine Welt der Extroversion. Die jetzt außer Kraft gesetzt ist.
Manche:r empfindet darüber Erleichterung, Manche:r gerät an seine Grenzen. Durch eine nie zuvor gekannte räumliche Enge mit der eigenen Familie, durch das Alleinesein, das nicht mehr so einfach zu durchbrechen ist, aber auch durch das Fehlen beruflicher Routinen und der persönlichen Interaktion. Mit sich selbst länger am Tag zu interagieren, das sind manche nicht gewöhnt. Orientierende Leitplanken sind nicht mehr existent. Viel müssen wir, trotz allem Austausch im virtuellen Raum, mit uns selbst ausmachen. Und hier stelle ich bei einigen eine unerwartete Erschöpfung wahr – es muss Thema sein, auch im zuvor abgekapselten beruflichen Kontext, wie gesund unser persönliches, mentales System ist.

Es muss erlaubt sein, Erschöpfung zu thematisieren.
Ich glaube, dass grad die Stunde der empathischen Führungspersonen schlägt – und ich hoffe, dass wir das mit in die Zeit nach Corona nehmen. Führung muss jenseits von fachlicher Eignung gestaltet werden. Denn aktuell werden Jene, die über eine hohe Fachlichkeit, aber geringe „Menschlichkeit“ in Führungspositionen kamen, große Schwierigkeiten außerhalb ihres gewohnten Koordinatensystems haben. Das sollten wir aktiv beobachten und gestalten. Ebenso wie ich mir wünsche, dass wir nicht mit einer Überkompensation von Konsum aus der Krise in den Alltag starten, sondern genau hinschauen, was wir (um Frithjof Bergman etwas abgewandelt zu zitieren) wirklich, wirklich brauchen. Denn ich glaube fest daran, dass nicht jeder Weg gemacht werden muss, der noch vor zwei Wochen ohne Reflektion gemacht wurde. Lassen Sie uns vor dem ersten Schritt nach der Zwangspause einmal kurz innehalten und bewusst gestalten, was das „DANACH“ ausmacht. Auch im Sinne von weniger Mobilität, Konsum dort, wo sie bisher beizeiten zuviel und unbewusst platziert wurde.

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