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Interview im Tagesspiegel Background

Bisher habe ich mich bei meinem Wirken rund um den Mobilitätswandel nicht sonderlich um die Diskussion von Höchstgeschwindigkeiten gekümmert. Vielleicht, weil ich dachte, das wird von selbst kommen, weil es ja nur Vorteile hat, zum anderen aber auch, weil ich nicht geglaubt hätte, dass eine Bundestagsfraktion sich in diesem Jahrhundert noch einmal dermaßen echauffieren würde, um das Tempo unlimited zu halten. Aber auch, weil mich immer wieder Geschichten von Angehörigen und Einsatzkräften erreichten, die Menschen durch die „unangemessene Geschwindigkeit“ anderer verloren haben oder Unfallopfer vor Ort behandeln mussten. Als ich gestern dann noch lesen musste, dass jemand, der mit dreifacher Geschwindigkeit durch die Stadt rasen kann, um dann nur einen Monat Fahrverbot zu bekommen, war das der letzte Tropfen in mein gut gefülltes Fass. Denn: Ich konnte es einfach nicht mehr ertragen, dass Menschenleben nichts, die persönliche Freiheit aber alles ist.

Ich setzte einen Thread bei Twitter auf, der in 18 Schritten erläuterte, warum ich die Gründe GEGEN ein Tempolimit nicht mehr als Argumente bezeichne, sondern als egoistisches Verhalten. Ich wollte informieren, aber auch erreichen, dass – so vorhanden – endlich mal Argumente genannt werden, dass es unsinnig oder nachweislich nachteilig ist, Geschwindigkeitsbegrenzungen einzuführen. Denn für mich haben diese Begrenzungen für Menschenleben und Klima gleichermaßen nur Vorteile. Und – so sagen es mir Bekannte, die im benachbarten Ausland Urlaubs- oder Geschäftsreisen machen: Es entspannt auch, wenn alle gleich schnell, langsam fahren. Ich stellte also diesen Thread rein und wartete ab. Schon nach anderthalb Stunden hatte ich auf meinem Handydisplay Hunderte Benachrichtigungen bei Twitter. Ich hatte mir zuvor vorgenommen, den erwarteten Sturm nicht zu moderieren, sondern das System abends sich selbst zu überlassen. Ich tat das mit gutem Gewissen, hatte ich doch meine Darstellung auf Fakten basiert – und nicht auf dem subjektiven Gefühl, für mich etwas zu platzieren.

#Spoiler: Auch jetzt, nach 24 Stunden „Diskussion“, gab es kein einziges Argument.

Es gab jede Menge #Whataboutism (also die Ablenkung von einem Thema durch Platzierung eines anderen – und ja, es kamen auch wieder die Kohlekraftwerke aus China), trotz Fakten- und Quellennennung der blanke Hinweis, das ich „falsch“ liege, der Bezug auf die Freiheit des Einzelnen sowie von einem Automobilclub abstruse Verteidigung des Status Quo. Ich habe mich festgelegt: Wer gegen Geschwindigkeitsbeschränkungen ist, handelt aus eigenem Interesse und null aus dem Interesse anderer.

Ich möchte Ihnen meine Argumente natürlich nicht vorenthalten. Auch hier bin ich offen für die Erkenntnis, völlig falsch zu liegen und etwas zu fordern (da bin ich mittlerweile nämlich, ich fordere Tempolimits auf Autobahnen, Landstraßen und innerorts), was keinerlei Sinn ergibt. Daher freue ich mich auch hier über sachdienliche Hinweise, die mich dazu bewegen können, meine Meinung zu ändern.

Der Thread.

370.075 Menschen waren 2019 von Verkehrsunfällen betroffen. 3.275 von ihnen starben.

Wie ich auf diese Zahlen komme? Bitte folgen Sie mir!
Da ist zunächst die Statistik vom ADAC: 3.275 Tote auf unseren. Dazu kommen 382.000 Personenschäden – was für ein furchtbares Wort für jedes Einzelschicksal. Jede Querschnittlähmung. Jedes massiv betroffene Leben. 2,66 Millionen Verkehrsunfälle insgesamt. Die FAZ rechnet in einem umfänglichen und lesenswerten Artikel für Steinherzbesitzer vor, dass jeder tödliche Unfall nicht nur die Angehörigen, sondern auch die Menschen, die beruflich damit zu tun haben belastet.

113 Menschen: 11 Angehörige, vier enge Freunde, 56 Freunde und Bekannte, 42 Einsatzkräfte.
So komme ich auf 370.075 Betroffene.

Damit kommen wir zum #Tempolimit. Jeder dritte von den Menschen, die im vergangenen Jahr auf deutschen Straßen ums Leben kamen, starb, weil er oder jemand anderes „unangepasst“ und damit zu schnell fuhr. Damit waren 123.358 Menschen betroffen. Von Raser:innen. Ob auf gerader Strecke, bei Regen, im Nebel.

„Unangepasst“ waren im Fall von Katharina Körner 150 km/h. Erlaubt waren 70. Der Fahrer des Wagens überlebte nahezu unverletzt. Ihr Sohn, Mann und Schwager nicht.

Ich bin fassungslos, was wir hier diskutieren. Dass eine Partei wie die CCU/CSU die >freie Fahrt< vor Menschenleben stellt. Fakten verneint. Belastung für Retter:innen und Betroffebe zumindest ausblendet, wenn nicht gar ignoriert.

Was, wenn es ihre Kinder träfe?

Von ad hoc positiven Klimaauswirkungen ganz zu schweigen, denn: Die Einführung eines Tempolimits senkt sofort und kostenlos den Spritverbrauch. Bei einer Begrenzung auf 120 km/h ließen sich jährlich rund drei Millionen Tonnen CO2 einsparen. „Mein“ fordert daher:

Kein Mensch darf mehr im Verkehr sein Leben verlieren. Das heißt Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h auf Autobahnen, von 80 km/h auf Landstraßen und eine Regel­geschwindigkeit von 30 km/h in der Stadt. Spoiler: durchschnittlich haben wir in Hamburg 17.

Erneut ist hier Politik nicht so weit wie Gesellschaft, die sich mehrheitlich für ein Tempolimit auf Autobahnen ausspricht. Frauen befürworten sogar mit Zweidrittel-Mehrheit das Tempo-limit.

Rasen ist scheinbar männlich.
Ist es auch christlich wie das C neben S und U? Tatsächlich! Schon 2008 forderte das Zentralkomitee der deutschen Katholiken ein Tempolimit auf Autobahnen von 120 km/h. März 2019: Evangelische Kirche Mitteldeutschland startet Petition für Tempolimit 130 km/h. Erfolgreich! Muss nun vom Petitionsausschuss behandelt werden. Es gibt da zudem so Ziele. Die Klimaziele der Bundesregierung. Sie geraten durch den Verkehrsbereich in Gefahr. Im Verkehr liegen – anders als in allen anderen Bereichen – die Treibhausgas-Emissionen heute höher als im Jahr 1990. Merkste ne?

Gut 30 % der gesamten Fahrleistung von motorisierten Fahrzeugen wird auf der Autobahn erbracht. Auf 70,4 % der Autobahnen ist das Tempo nicht limitiert. Riesiges Potenzial zur Emissionseinsparung.

Ich wiederhole mich: Kostenlos, ad hoc, unbürokratisch. Geschenkt!
Wir schauen uns um: Wer hat noch kein Tempolimit? Sowohl bei der Zahl der Getöteten pro Autobahnkilometer als auch bei den Getöteten pro einer Milliarde Fahrzeugkilometer auf der Autobahn schneidet wir schlechter ab als die Schweiz, Schweden, Dänemark oder Großbritannien. 67,7 % aller tödlichen Unfälle ereignen sich auf Autobahnabschnitten, die keine Geschwindigkeitsbegrenzung haben. Und das, obwohl Unfallschwerpunkte längst mit dauerhaften oder situationsabhängigen Tempolimits ausgestattet sind. SPIEGEL ONLINE berechnete im Januar 2019 die Todesfälle, die durch Tempolimit verhindert werden könnten und kam auf 140.

Pro Milliarde Fahrzeugkilometer gibt es 1,67 tödliche Unfälle auf Autobahnabschnitten ohne Tempolimit und 0,95 auf Abschnitten mit Tempolimit.

Der Unfallforscher Göran Nilsson kommt nach Auswertung des schwedischen Unfallgeschehens zu dem Ergebnis, dass die Verringerung der Durchschnittsgeschwindigkeit um fünf Prozent zu einer Reduzierung der Unfälle um zehn und der tödlichen Unfälle um 20 Prozent führt. Demnach reduzieren 9,1 weniger km/h durch ein Tempolimit die Unfallzahl um 18,2 % und Todesfälle um 36,4 %. 2017 starben 277 Menschen durch Unfälle auf nicht limitierten Autobahnen. Demnach würden 101 Menschen, die 2017 tödlich verunglückten, heute noch leben.

Während ich all das aufliste, wird mein Herz immer schwerer.

Ich ende daher an dieser Stelle mit dem Hinweis, dass meine Freiheit IMMER da enden muss, wo sie die anderer beschränkt, sie tötet oder Unbeteiligte in Mitleidenschaft zieht.
Das waren sehr viele Fakten. Die für Geschwindigkeitsbegrenzungen sprechen. Die ich um rigide, einkommensabhängige Strafen, entsprechende Kontrollen und Personal, das für die Nachhaltigkeit dieser Maßnahmen sorgt, ergänzen würde.

Aber wie gesagt: Sagen Sie mir gerne meinen blinden Fleck, der nicht erkennt, warum wir das nicht SOFORT machen sollten? Freue mich auf Ihre Anregungen in dieser Sache.

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