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„Wir müssen endlich andere Geschichten von Mobilität erzählen“ – mein Interview mit der Neuen Narrative

Dieses Interview findet sich in der Neue Narrative.

Neue Narrative ist nach eigenem Anspruch ein „Wirtschaftsmagazin, in dem es nicht nur um Wachstum, Rendite und heroische Manager*innen geht. Wir erzählen Geschichten aus einer neuen, egofreien Arbeitswelt, die zum Anpacken, Nachmachen und Weiterdenken einladen.“

Ich kann euch dieses Magazin nur wärmstens ans Herz legen, weil es nicht nur die gesellschaftlichen Strömungen proaktiv aufgreift, die uns gerade umtreiben, sondern selbst auch Teil der Transformation ist, die unsere Gesellschaft so dringend benötigt.
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Und nun zum Interview.

Hallo Katja! „Autos töten“, kann man das so sagen?

Ja, das kann man so sagen. Gerade erst gingen wieder zwei Fälle von Radfahrerinnen in Berlin durch die Medien, die kurz hintereinander im Straßenverkehr getötet wurden. Wir verlieren jedes Jahr über 3.000 Menschen an solche Ereignisse, und von jedem Verkehrstod sind 113 weitere Personen mitbetroffen: Angehörige, Zeug*innen, Ersthelfer*innen. Wir haben uns an diesen Wahnsinn gewöhnt. 

Gleichzeitig werden die Autos immer größer, immer tödlicher. Die Sicherheitsausstattung von Autos macht sie nur für die Insassen sicherer, für den Rest der Welt werden sie immer gefährlicher.

Ein anderer Aspekt ist die Luftverschmutzung: In der Pandemie hat sich gezeigt, dass Covid in Städten mit hoher Luftbelastung tödlicher ist als da, wo die Luft sauberer ist. Das betrifft besonders die schwächsten Verkehrsteilnehmer*innen: Fußgänger*innen, Radfahrer*innen oder Kinder, die sich auf Auspuffhöhe durch die Stadt bewegen und die Abgase einatmen.

Deswegen: Ja. Autos töten.

Ein User auf Twitter sagt: „Wir wollten mal das 2L Auto und bekamen den SUV.“ Wieso ist es so gekommen? Welche Rolle spielt dabei die Automobilindustrie?

Die Autoindustrie behauptet ja gerne, sie könne nur das verkaufen, was die Leute wollen. Aber ohne milliardenschwere Werbung wäre kein Mensch auf die Idee gekommen, sich einen SUV zu kaufen. Ich bin so ein Ding mal hier in Hamburg gefahren: Es war der pure Stress. So ein Fahrzeug passt überhaupt nicht in die Stadt. Es ist viel zu groß. Wir haben unsere Ingenieurskunst für die falschen Dinge vergeudet: Jetzt haben wir Autos, die schwerer sind, die trotz verbesserter Motorentechnik mehr verbrauchen und überhaupt nicht den Bedürfnissen unserer Zeit entsprechen. Und eine Industrie, die sehr viel Ingenieurskunst in den Betrug gesteckt hat – anstatt diese zur Lösung der Klima- und Raumkrise zu nutzen.

Die Werbung zeigt immer Autos, die sich in leeren Städten bewegen oder in einsamen Landschaften. Sieht so die Realität des Autofahrens aus? Ein Auto in Deutschland bewegt sich 45 Minuten am Tag (das sind drei Prozent des Tages!), davon den größten Teil im Stau und auf Parkplatzsuche. Die Werbung hat Bedürfnisse geschaffen, die es eigentlich gar nicht gibt. Währenddessen wurde in Deutschland der Wandel verschlafen. Ich glaube, ohne Fridays for Future, Elon Musk und das Bundesverfassungsgericht hätte sich die Industrie bis heute nicht bewegt. 

Oft wird gesagt, Mobilitätskonzepte, die weg vom Pkw gehen, seien vor allem für Bessergestellte und Städter*innen gedacht.

Ja, wir fallen alle immer wieder auf dieses Narrativ rein, dass die Normal- oder Geringverdiener*innen die Verlierer*innen einer Verkehrswende wären. Die Zahlen zeigen aber, dass die Menschen mit dem niedrigsten Einkommen auch am wenigsten Auto fahren.

Mein Vater lebt auf dem Land, hat Parkinson und kann nicht mehr selbst fahren. Mobilität ist für ihn nur möglich, wenn meine Mutter ihn fährt. Das betrifft sehr viele Menschen in Deutschland, und es werden immer mehr. Es ist erniedrigend, um Mobilität bitten zu müssen. Wir leben in einer Gesellschaft, die zunehmend älter wird und in der immer mehr Menschen nicht in der Lage sind, selbst ein Auto zu fahren. Mobilität sollte auch möglich sein, wenn ich nicht jung und gesund bin. 

Wir haben jetzt 49 Millionen Autos in Deutschland, das muss wirklich der Peak sein. Das heißt nicht, dass alle von heute auf morgen aufhören müssen, Auto zu fahren. Aber es sollte Alternativen geben. Und die Angebote sollten auf Augenhöhe sein. 

Wie kommen wir dazu, dass sich im großen Stil etwas verändert?

Ein wichtiger Aspekt für mich ist, endlich andere Geschichten von Mobilität zu erzählen: Ich lebe in einer Stadt und habe kein Auto. Oft wird behauptet, das sei ein Verzicht. Dabei verzichte ich in erster Linie auf Stress.

Dazu finde ich es auch hilfreich, ab und zu einen Perspektivwechsel zu wagen: Wie sieht die Stadt aus der Perspektive eines Kindes aus, das die Lücken zwischen den Blechriesen suchen muss, um über die Straße zu kommen? Wie ist die Stadt aus Sicht eines Menschen mit Rollator oder Kinderwagen? Statt über Verzicht zu reden, fände ich es besser zu fragen: Soll die Situation wirklich so ungerecht bleiben, wie sie aktuell ist?

Die alten Erzählungen sollten durch neue Vorstellungen ersetzt werden. Ich werde manchmal hart angegangen, wenn ich sage: Ich möchte es auch in der Stadt schön haben, also nicht permanent von Autos umgeben sein. Ich wünsche mir lebensfreundliche Städte, kinderfreundliche Städte. Heute sehe ich vor allem Blech und muss in den Urlaub fahren, um es schön zu haben. 

Siehst du denn, dass sich schon etwas bewegt?

Einige Städte fangen an, endlich für mehr Mobilitätsgerechtigkeit zu sorgen, indem sie zum Beispiel die Anwohnerparkausweise realistisch bepreisen. Wenn ein Kinderzimmer ca. 1.000 Euro Miete im Jahr kostet, warum sollte ein Parkausweis dann nicht das gleiche kosten? Der Platzverbrauch ist mindestens der gleiche.

Außerdem finde ich wichtig, die Menschen, die nicht aufs Auto angewiesen sind – und das sind viele – dazu zu bewegen, umzusteigen. Ich stelle da immer gern die Frage: Musst du Auto fahren oder willst du Auto fahren? Es geht darum, eingefahrene Spurrillen zu verlassen. Ohne Anstoß von außen sitzt man ja nicht morgens am Frühstückstisch und sagt: „So, Erna, heute nehme ich mal den Bus.“

Und natürlich müssen wir endlich ans Tempolimit ran. Es gibt viele Argumente für Tempolimits: weniger Tote, weniger Luftbelastung, weniger Lärm, flüssigerer Verkehr … Und es gibt kein einziges Argument gegen Tempolimits außer: „Ich will aber schnell fahren.“ Das spricht aber keiner aus. Genau wie nur sehr wenige Politiker*in sagen: „Wir brauchen weniger Autos.“ Obwohl es ein offensichtlicher Fakt ist.

Was können Unternehmen bzw. Menschen in Unternehmen tun, um den Prozess zu beschleunigen?

Unternehmen sind ein wichtiger Hebel, um Mobilität zu verändern. Toll finde ich Initiativen wie das Jobrad-Leasing. Im DB-Konzern nutzen das mehr als 40.000 Menschen. Toll daran ist auch, dass das auf jeder Gehaltsstufe stattfindet. Dienstwagen werden meist nur den oberen paar Prozent der Einkommenshierarchie angeboten. Bei der Bahn können jetzt Menschen, die einfache Jobs machen und vielleicht die Waggons reinigen, ihre alte Möhre von Auto aufgeben und sich dafür ein tolles E-Bike holen. 

Was ich auch sinnvoll finde: wenn Firmen ihren Mitarbeiter*innen Mobilitätsbudgets zur Verfügung stellen, die sie dann selbst einsetzen können. Sodass ich als Mitarbeiter*in entscheiden kann, ob ich mir eine Bahncard 100 hole. Oder mir mal am Wochenende einen Sportwagen ausleihe. Alles besser, als selbst ein Auto zu besitzen, das dann 97 Prozent der Zeit irgendwo rumsteht.

Wie sieht für dich die Zukunft der Mobilität aus? Was wird sich in 20 Jahren verändert haben?

Viele Menschen tun sich schwer mit dieser Frage. Die Vorstellung von einer stark veränderten Mobilität macht ihnen Angst. Natürlich wird es bestimmte Dinge dann nicht mehr geben, und auch bestimmte Berufe werden vielleicht nicht mehr so relevant sein. Pferdekutscher*innen gibt es heute ja auch kaum noch. Man kann das aber auch als Chance sehen: Da wird so viel Energie frei, so viel Kraft, so viel Zeit. So viel Raum für Neues.

Unsere Städte und Dörfer gibt es schon viel länger, als es das Auto gibt. Es wird zwar ein Umbau nötig, aber früher war es auch möglich, alles ohne Auto zu erledigen. Wir müssen da einfach wieder kreativer denken. 

Die erste Regel der Verkehrswende lautet: Wege vermeiden. Positiv ist, dass sich die Arbeitswelt eh in Richtung Wissensjobs entwickelt, die von überall aus gemacht werden können. 

Ich finde Konzepte wie die 15-Minuten-Stadt sehr sinnvoll, die gerade in Paris vorangetrieben wird. Also eine Stadt, in der ich alle Erledigungen des täglichen Bedarfs innerhalb von 15 Minuten machen kann. Dann können Menschen sich wieder mehr auf die gesündesten und umweltfreundlichsten Fortbewegungsarten besinnen: zu Fuß gehen und mit dem Rad fahren, statt mit dem Auto ins Fitnessstudio zu fahren. Allerdings bedeutet das auch, dass wir im ländlichen Raum wieder mehr Infrastruktur und eine bessere Nahversorgung brauchen. 

Ich denke, in 20 Jahren gibt es kaum private Pkw mehr. Es wird sicher weiter (autonome) Autoflotten geben, aber auch ein deutlich besseres Schienensystem, nicht nur für unsere Mobilität, sondern auch den Güterverkehr. 

Wenn jede*r Leser*in nur eine Sache angeht, um zur Verkehrswende beizutragen, was würdest du empfehlen?

Ich empfehle, das Thema Bequemlichkeit stärker zu reflektieren: Habe ich das Auto genommen, weil ich es musste, oder einfach nur aus Bequemlichkeit? Was helfen kann, ist zum Beispiel, sich selbst eine Bequemlichkeits-Stempelkarte anzulegen: Immer wenn ich fünfmal aus Bequemlichkeit das Auto genommen habe, lasse ich es einen Tag oder eine Woche stehen.

Zudem finde ich es wichtig, dass die Menschen begreifen, dass sie wirksam sind. Wir müssen uns nicht dem ausgeliefert fühlen, was gerade ist, sondern können Politiker*innen und Bürgermeister*innen nerven und sichere Mobilität für alle fordern. 

Menschen können sich für ihre Belange zusammenschließen. Um ein Gefühl dafür zu kriegen, kann ich jeder*jedem empfehlen, mal auf einer Critical Mass oder Kiddical Mass, also einer Fahrraddemo, mitzufahren. Menschen können mutig sein, sich erheben und eine bessere Welt für sich und ihre Kinder fordern. Vielleicht können die dann eines Tages wieder auf der Straße spielen, wie das früher möglich war.

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