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Was bedeutet die „Brandrede“​ von Herbert Diess für VW – und die Branche?

Ich habe mir die Rede von Herbert Diess im Wortlaut durchgelesen. Ein wenig tat ich mich nach den ersten Meldungen über diese schwer, sie wie viele andere als „phänomenal“ zu bezeichnen, da sie für mich eher logisch für einen Manager ist, der erfolgreich Business machen möchte: Er erkennt den Wandel seiner Branche an und motiviert seine Mitarbeitenden, diesen aktiv mitzugestalten. In Sachen VW mit ganz klarem Appell zum Mut und zur Geschwindigkeit, da Klimakrise und Digitalisierung diese Entwicklung treiben – und dieser Konzern wie viele andere sie nicht intrinsisch motiviert schon längst angestoßen hat.

Ich möchte vorab deutlich anerkennen, dass die Rede das Deutlichste ist, was ich bisher aus der Autobranche vernommen habe.

Denn noch immer scheuen sich viele Führungskräfte unserer als >Schlüsselbranche< bezeichneten Automobilindustrie davor, zumindest öffentlich wahrnehmbar deutlich zu machen, WIE groß der Wandel sein muss, um zu überleben. Und dabei ist schon der erste Schritt, PKWs lokal emissionsfrei zu machen, ein sehr zäher, der Druck der EU-Auflagen, der mit diesem Jahr einsetzt, macht diese externen Trigger zum Wandel nur noch spürbarer. Analyst:innen glauben – das sagt Diess auch in seiner Rede – dass VW eines der Automobilunternehmen sein wird, die den „U-Turn“ schaffen und ihr Geschäft auch in Zukunft erfolgreich gestalten werde. Er startet seine Rede daher auch mit vielen Erfolgsbeispielen, die sich jedoch fast ausschließlich auf Erfolgsmerkmale der „alten Autowelt“ beziehen: Absatz, Umsatz, Märkte. Ich finde das valide, denn daran wird VW von jenen leider immer noch bemessen, die in den Konzern investieren. Aber dieses Koordinatensystem muss sich deutlich ändern, wenn sich nicht nur wegen des „Drucks“ geändert werden soll, sondern auch wegen der zwingend notwendigen , der es in Deutschland bedarf.

Und damit komme ich zu den Details, die ich gerne mit Ihnen diskutieren möchte!

Wir verbringen im Automobil der Zukunft mehr Zeit als heute, vielleicht zwei Stunden statt einer. Deshalb wird es nicht zur grauen Büchse, sondern noch viel komfortabler, wohnlicher und vor allem vernetzter, multifunktionaler als heute.

Herr Diess bezieht sich hier sicher nicht auf die Statistik, dass der deutsche PKW sich nur 45 Minuten am Tag mit 1,2 Personen an Bord bewegt. Dieses repräsentativ erhobene Detail ist eines von vielen, das ich verändert sehen möchte. Wer sein Auto intensiv nutzt und aktuell nicht alternativ seine Mobilität gestalten kann, hat im ersten Schritt wahrscheinlich auch hinsichtlich des Klimas bessere Alltagswerte als Jene, die ihr Auto am Maximalbedarf ausrichten – aber nur minimal nutzen. Doch worauf spielt Herr Diess dann an? Warum sollte die Zeit, die wir im Auto verbringen, sich verdoppeln? Sind es die zusätzlichen Staus, die wir zu erwarten haben, wenn die Zulassungszahlen nicht zeitnah stagnieren und dann sinken? Habe nur ich eine Gänsehaut, wenn in einer Zeit, in der Autos noch nicht autonom fahren, diese noch wohnlicher und komfortabler werden sollen? Was machen diese Autos mit dem eh schon separierten Menschen? Mir ist bewusst, dass viele PKW fahren, um die Begegnung mit anderen zu vermeiden. Aber wollen wir dieses Verhalten wirklich noch pushen? Mich hat diese Aussage fast ein wenig dystopisch „gestimmt“.

Was uns fehlt, das sind vor allem Schnelligkeit und der Mut zu kraftvollem, wenn es sein muss radikalem Umsteuern.

versus

Auch bei MOIA werden wir den Aufwand deutlich reduzieren. Wir wollen unseren Fuß in dem Geschäft behalten. Wir müssen unser Engagement aber zeitlich strecken, bis die Voraussetzungen für die Profitabilität besser sind. Das gilt nicht zuletzt für die teuren Fahrzeuge.

Wer meine Arbeit verfolgt, der weiß, dass ich mir schon lange wünsche, dass Fahrzeughersteller fantastische Automobile für geteilte, elektrische Fahrten herstellen, die per Algorithmus in den ÖPNV eingebettet sind und nicht als deren Konkurrenz fahren. MOIA fährt in meiner Heimatstadt Hamburg mit tollen goldenen Craftern, hat ein Innenleben, das auch Businessmenschen begeistert und könnte – von dieser Basis ausgehend – jetzt den nächsten Sprung wagen. Das muss und sollte nicht von VW betrieben werden. VW kann tolle Autos, aber keinen ÖPNV und nach meinem Kenntnisstand haben sie auch nicht den besten marktreifen Algorithmus in diesem Segment. Es ist also logisch – in der Konzerndenke – hier das Engagement zurückzufahren.

Ich stelle aber die Frage: Warum nicht deutschlandweit auf Partnersuche gehen? Warum das Fahrzeugkonzept nicht marktfähig und ÖPNV-tauglich machen (denn aktuell ist es noch nicht barrierefrei)? Auch das wäre eine Basis für gesteigert Absatz. Sicher nicht mit der Traummarge, aber das zu gestalten, ist VW ja Kerngeschäft. Ist die Verantwortung wirklich nur den materiellen Stakeholder zu widmen oder auch den ideellen, nämlich den Menschen in diesem Land, die sich a. kein eigenes Auto leisten können oder wollen und deswegen Alternativen wie MOIA nutzen würden und b. den Städter:innen in Randlagen, die mit Shuttles wie MOIA Zubringerdienste auf Nahverkehrsstationen nutzen und auf das eigene Auto in der Stadt verzichten könnten? Ist das „think big“ legitim nur auf das eigene und dann doch wieder margengetriebene Konzernwachstum anzuwenden?

Und schon wird meine Frage auch im Text beantwortet:

Uns muss der Paradigmenwechsel weg von Volumen und hin zu Qualität des Geschäfts gelingen. Wir werden künftig noch stärker auf Umsatz, Rendite und Cash als Kernberichtsgrößen abstellen.

Was heißt „noch stärker“? Fallen damit alle Aktivitäten des Konzerns nur noch unter diese Betrachtung? Was ist mit den Aktivitäten im Carsharing von WeShare? Was ist mit geteilten PKW, die zwar nicht autonom fahren, aber durch Konzepte eine durchgängige Nutzung erfahren könnten? Was ist mit kleineren Fahrzeugtypen, die weniger Platz in der Stadt okkupieren? Die Rede ist eine kraftvolle Rede für ein „Digital im Weiter so“. Der Wandel, den Diess fordert, ist radikal – für seinen Konzern. Aber ist er radikal genug für eine Zeit der Klimakrise? Habe ich zuviel erwartet, als ich aufgrund der jubelnden Kommentare zur Rede diese im Wortlaut las? Es mag sein. Es zeigt aber auch, dass ich unserer Schlüsselbranche immer noch eine Rolle in der Verkehrswende gönnen möchte. Weil ich viele tolle Menschen kenne, die dort arbeiten. Aber ich gebe zu, dass mich diese Rede sehr nachdenklich zurück lässt. Wäre ich überzeugt vom Produkt „privat besessenes Automobil“, so würde ich diese Rede wie ein Manifest an die Zukunft lesen können.

Als jemand, der die Verkehrswelt barrierefrei, bezahlbar, elektrisch und geteilt gestalten möchte, bin ich etwas ratlos.
Und freue mich auf Ihre Gedanken, die ich an dieser Stelle gerne mit Ihnen diskutieren möchte.

4 Gedanken zu „Was bedeutet die „Brandrede“​ von Herbert Diess für VW – und die Branche?“

  1. In dem Zusammenhang mal eine Anekdote: Eine Kollegin bei meinem letzten Arbeitgeber erzählte mir von ihrem Dreh in Kuba, dass es dort gesetzlich Pflicht ist, Anhalter mitzunehmen. In Deutschland ist der Besetzungsgrad von PKW nach wie vor rückläufig. Eine Funktion zum Ridesharing in Privatfahrzeugen (nicht nur für Anhalter, sondern auch nur für das familiäre oder private Umfeld) gibt es meines Wissens nicht. Die nötige Hardware ist ja mittlerweile in jedem Neuwagen verbaut. Und genutzt würde sowas auch, gerade auf dem Land. Fürs Einkaufen, Schulwege, etc. Stattdessen haben die Fahrzeuge 100 verschiedene Heizmöglichkeiten, elektrisch öffenbare Heckklappen, etc… Die meisten Fahrer sind von diesen Funktionen überfordert, so meine Beobachtung. Overengineering….

    1. Zustimmung – plus, dass die Fahrzeuge, die wir immer mehr stehen- als fahrentlassen, immer riesiger und schwerer werden und damit all die Verbesserungen in Sachen Klima wieder obsolet machen. Es ist ein Teufelskreis von Abhängigkeit der Autofahrenden und mangelndem Mut der Autobauenden.

  2. „Steve Jobs hingegen hatte verstanden, dass sich die Funktion des Device grundlegend änderte. Der Zugang zum Internet wurde wichtiger als das Telefon selbst.“ VW hat nicht verstanden, dass in Zukunft nicht mehr das eigene Auto, sondern der Fahrdienst wichtig ist. Die erste Chance ganz vorne mit dabei zu sein hat VW bereits 2005 verspielt, nachdem ein VW Touareg das autonome Autorennen der Darpa gewonnen hat. Larry Page und Sergey Brin von Google haben erkannt, wie man mit autonomen Autos Geld verdienen kann und den Chefentwickler des Gewinnerteams Sebastian Thrun angeworben, um Google X aufzubauen, aus dem dann Waymo hervorging. VW hingegen hat sich über neuen PR-Text gefreut und sich nicht weiter um autonome Autos gekümmert. In seiner Rede wird nicht einmal das Wort autonom erwähnt. Wahrscheinlich auch, damit er nicht als Spinner bezeichnet wird. Ich nehme an Herr Diess weiß, dass autome Technik wichtig ist und wollte 2018 10% von Waymo kaufen, der Aufsichtsrat war dagegen. Damit war dann die zweite Chance vertan.
    Wenn in den nächsten zehn Jahren Flotten von autonomen Autos in den Städten fahren, dann werden die Fahrzeuge nicht „viel komfortabler, wohnlicher und vor allem vernetzter, multifunktionaler als heute.“, sondern einfache, leicht zu reparierende und wartende Nutzfahrzeuge ohne Schnickschnack. Jeder Fahrgast wird sein eigenes Handy mitbringen, so wie heute beim ÖPNV. Der Flottenbetreiber schreibt vor, was zu produzieren ist und wird Rabatte bei der Abnahme von mehreren zehntausend Stück fordern. Das Geld verdient dann der Fahrservice, nicht mehr die Händler, Hersteller, Tankstellenbetreiber und Werkstätten. Selbst der TÜV kann die meisten seiner Servicestellen dichtmachen, da autonome Fahrzeuge rund um die Uhr im Dienst sind und innerhalb von drei Jahren ausgewechselt werden.
    Als einziger Autohersteller war General Motors weitsichtig, mit Cruise kommen die nahe an Waymo ran. Aber VW, BMW und Daimler hängen in der Entwicklung um fünf bis sieben Jahre hinterher und werden am Ende der 20er Jahre nur noch die Blechbieger für Waymo, Uber, Lyft und Co. sein.

    1. Superspannende Hinweise – danke! Ich war vor einer Woche mit Timo Daum auf dem Podium, sein Buch geht auch in die Richtung. Tesla interessiert das Auto an sich nur so weit, dass er es verkaufen möchte als Teil eines Systems. Er steht schon mit einem Bein in der Zukunft, auf die er eigentlich nur noch technisch warten muss. Weil er von Beginn an Service und nicht Blech im Fokus hatte.

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