Es begann mit einem LinkedIn-Kommentar unter meinem Post über die Ringvorlesung „Klimakrise und Nachhaltigkeit“. Timotheus Werth von Denkseth – seines Zeichens
🚀 Next Gen Growth Evangelist | 💡 AI Enthusiast | 🧘♂️ Purposepreneur | 🥇 Chief Philosophical Officer | Purpose-Provokateur – hatte einiges zu sagen.
Mein Beitrag würde sich lesen „wie aus dem Hochglanzprospekt eines Elfenbeinturms“. Mein persönlicher Beitrag bestehe aus „Vorträgen, Posts und BahnCard-Spendenlinks“. Diese Kombination aus „moralischem Pathos und öffentlicher Bettelei“ sei symptomatisch für eine ganze Generation selbsternannter „Change Agents“: „Laut, betroffen, und gleichzeitig erstaunlich bequem.“
Timotheus nennt es „öffentliche Bettelei“, wenn ich transparent mache, dass ich als Soloselbstständige um Unterstützung für meine BahnCard 100 bitte.
Ich nenne es: Sichtbarmachen von Prekariat.
Denn während ich 300 Tage im Jahr zwischen Pflegebetten, Vortragsbühnen und Regionalzügen unterwegs bin, entscheide ich mich bewusst dafür, diese Realität nicht zu verstecken. Nicht hinter Titeln. Nicht hinter Emojis. Nicht hinter der Illusion, dass „wer es geschafft hat“ keine Hilfe mehr braucht.
Mein „moralischer Hochsitz“? Das ist kein Hochsitz. Das ist ein Klappsitz im Regionalexpress. Und genau von dort aus schreibe ich über Klimagerechtigkeit – weil ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn das Konto leer ist und man trotzdem weitermachen muss.
Aber zurück zu Timotheus. Ich habe mir sein Profil genauer angeschaut. Die Emoji-Parade. Der AI Enthusiast. Der Next Gen Growth Evangelist.
Und dann habe ich recherchiert, wie es gerade so läuft in der schönen neuen KI-Welt:
95 Prozent der KI-Pilotprojekte in US-amerikanischen Unternehmen führten laut einer Studie des MIT Media Lab zu keinerlei messbaren positiven Auswirkungen. Trotz zweistelliger Milliardensummen wurden in gerade einmal 5 Prozent der untersuchten Fälle nennenswerte Einnahmen oder Ersparnisse erzielt.
80 Prozent der Firmen, die Generative KI einsetzen, konnten laut McKinsey keine signifikanten Verbesserungen erzielen. Rund die Hälfte gab ihre KI-Projekte daraufhin auf.
40 Prozent der US-Arbeitnehmer berichteten laut Harvard Business Review, dass KI-Ergebnisse sich als gute Arbeit „tarnen“, aber wenig Substanz haben. Das Phänomen hat bereits einen Namen: „Workslop“ – Arbeitsabfall. Wer mit KI-Texten weiterarbeiten muss, verwendet jede Menge Zeit auf die Korrektur dieses Unsinns.
Ein besonders schönes Beispiel: Die Unternehmensberatung Deloitte verfasste für rund 250.000 Euro ein Dokument über die Jobsuche im Sozialsystem für die australische Regierung. Es enthielt jede Menge Fehler, weil die verwendete KI sich wissenschaftliche Belege und Zitate einfach „ausgedacht“ hatte. Eine australische Politikerin warf dem Unternehmen vor, ein „menschliches Intelligenz-Problem“ zu haben.
Und dann noch das: 45 Prozent Fehlerquote bei KI-Assistenten in der Nachrichtenwiedergabe, so die Europäische Rundfunkunion. Besonders mit Quellenangaben schludern sie, unterscheiden zweifelhafte Blogs kaum von seriösen Nachrichtenquellen und scheitern häufig bereits an einfachen Fragestellungen wie „Was exportiert China?“.
Ich vermute: Als selbsternannter „Purpose-Provokateur“ mit KI-Fokus spürt Timotheus gerade, wie wackelig der Boden unter den Füßen wird. Die Blase platzt. Die Buzzwords tragen nicht mehr. Die Studien sind eindeutig. Und plötzlich stellt sich die Frage: Was bleibt, wenn die KI-Euphorie verraucht?
Da ist es natürlich verlockend, auf jemanden zu zeigen, der im Zug sitzt und über Klimagerechtigkeit spricht. Der „nur“ Vorträge hält. Der um Unterstützung bittet. Der seine Prekarität nicht versteckt.
Aber hier liegt der Unterschied:
Ich stehe zu meiner Prekarität. Ich mache sie sichtbar – weil genau das Teil der Ehrlichkeit ist, über die ich in meinem Vortrag gesprochen habe. Ich verstecke mich nicht hinter Titeln und Emojis. Ich verkaufe keine Heilsversprechen in einer Branche, die gerade ihre eigene Wirkungslosigkeit beweist.
Timotheus hingegen verkauft KI-Begeisterung in einer Zeit, in der selbst Harvard Business Review vor „Arbeitsabfall“ warnt und zweistellige Milliardensummen verpuffen.
Ehrlichkeit fängt bei uns selbst an
In meinem Vortrag sprach ich davon, dass wir kein Umsetzungs-, sondern ein Ehrlichkeitsproblem haben. Dass wir uns die Frage stellen müssen: Wollen wir wirklich, dass es anderen besser geht? Oder wollen wir nur, dass es uns weiterhin gut geht?
Diese Frage gilt auch hier.
Wer ist ehrlicher? Die Person, die sagt: „Ich sitze im RE7, ich pflege meine Eltern, ich kann mir die BahnCard nicht leisten und bitte um Unterstützung“?
Oder die Person, die sich mit fünf Titeln und einer Handvoll Emojis schmückt, während die Branche, für die sie evangelisiert, gerade ihre eigene Substanzlosigkeit beweist?
Timotheus schrieb, dass Menschen wie ich „laut, betroffen, und gleichzeitig erstaunlich bequem“ seien.
Weißt du, was wirklich erstaunlich bequem ist?
Unter fremden LinkedIn-Posts Gift zu versprühen, während man selbst als „Purpose-Provokateur“ firmiert. Mit Buzzwords um sich zu werfen, während die eigene Branche implodiert. Auf andere zu zeigen, statt sich selbst die unbequemen Fragen zu stellen.
Ich sitze im RE7. Ich pflege. Ich arbeite. Ich spreche über Ehrlichkeit – und lebe sie, so gut ich kann. Mit allen Widersprüchen. Mit aller Prekarität. Sichtbar.
Das ist nicht bequem. Das ist verdammt anstrengend.
Aber es ist ehrlicher als jeder Emoji-Titel dieser Welt.


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