Alle feiern gerade, dass Melanie Amann Ulf Poschardt bei Reporterfabrik „in die Schuhe gestellt“ hat. Der Titel des Formats sagt schon alles: „High Noon“ – zwei ziehen die Waffen, eine*r bleibt stehen, eine*r geht zu Boden. Publikum jubelt.
Ich kann die Begeisterung nicht nachvollziehen – nicht, weil Amann es nicht gut gemacht hätte, sondern weil das Format selbst das Problem ist.
Wenn wir politischen Diskurs wie einen Wildwest-Showdown inszenieren, bei dem es nur um Sieg oder Niederlage geht, dann haben wir schon verloren. Denn Demokratie braucht keinen Schnellsten am Colt – sie braucht Menschen, die einander zuhören.
Das trügerische Versprechen der Kampf-Formate
Ja, Melanie Amann hat Ulf Poschardt kontern können. Aber das gelingt nur, weil sie auf Augenhöhe agiert – rhetorisch geschult, medial erfahren, resilient gegenüber Halbwahrheiten und Diffamierungen.
Um jemanden wie Poschardt zu „entzaubern“, brauchst du nicht nur Faktenkenntnis, sondern auch die Fähigkeit, unter Druck schnell zu formulieren, Angriffe abzuwehren, nie aus der Fassung zu geraten. Diese Fähigkeiten sind nicht allen Menschen gegeben – und müssen es auch nicht sein. Nicht jede*r muss zum rhetorischen Gladiator werden, um gehört zu werden.
Das eigentliche Problem liegt tiefer: Diese Formate bedienen ein diametrales System. Beide Seiten feiern sich im Nachgang als „Sieger*in“. Es geht um Triumph, nicht um Verstehen.
Sie triggern förmlich das Gefühl, dass es um Gewinnen und Überzeugen geht – nicht um Austausch von Perspektiven. Letzteres bräuchte es aber für echten Mehrwert.
Was passiert eigentlich nach dem Duell?
Die jeweiligen Bubbles applaudieren, teilen Ausschnitte, in denen „ihre“ Seite besonders gut wegkommt, und fühlen sich bestätigt. Niemand hat seine Perspektive erweitert, niemand wurde wirklich erreicht. Es ist performative Meinungspflege.
Die Formate simulieren Auseinandersetzung, verhindern aber echte Verständigung. Und am Ende bleibt alles beim Alten. Nur die Gräben bei Zuschauenden sind ein bisschen tiefer geworden.
Was fehlt, sind Formate, die nicht auf Sieg, sondern auf Verstehen ausgelegt sind. Die Raum geben für Ambivalenzen, für „Ich weiß es auch nicht genau“, für das Aushalten von Widersprüchen. Aber das ist halt nicht klickbar, nicht teilbar, nicht memefähig.
Das Gegenmodell: „Sind wir noch ein Volk?“
Dabei gibt es Alternativen. Die MDR-Dokumentation „Sind wir noch ein Volk?“ macht genau das Gegenteil von High Noon. Sie schafft Raum statt Ring.
Acht Menschen aus komplett unterschiedlichen Milieus werden porträtiert: ein Pegida-Gründer, eine türkischstämmige muslimische Rapperin, ein Wut-Bauer, eine Klimakleberin, eine überzeugte Pazifistin, ein ehemaliger Wehrdienstverweigerer, der sich angesichts des Ukrainekriegs nun doch militärisch ausbilden lassen will.
Der Film begleitet sie in ihrem Alltag und versammelt sie dann – virtuell im Schnitt – an einem Gesprächstisch. In der Realität würden sie nie aufeinander treffen. Wenn doch, würden sie einander nicht zuhören oder unverstanden auseinandergehen.
Was macht dieses Format anders?
Kontextualisierung statt Reduktion: Wir sehen die Menschen in ihrem Leben, nicht nur als Meinungsträger*innen. Der Pegida-Gründer ist nicht nur „der Rechte“, die Klimakleberin nicht nur „die Aktivistin“ – sie werden als Menschen mit Biografien, Ängsten, Widersprüchen sichtbar.
Sensible Moderation: Es gibt einen Moderator, der die Punkte des Gegenübers auch mal anders darstellt, umformuliert, verständlich macht. Niemand kann dazwischenbrüllen. Der Schnitt zwingt zum Zuhören – auch uns als Zuschauende.
Raum für Komplexität: Das Format behauptet nicht, am Ende wären alle einer Meinung. Es zeigt ehrlich: Wir liegen weit auseinander. Aber es macht nachvollziehbar, warum jemand so denkt.
Beim Zuhören lernen wir auf sanfte Weise andere Perspektiven kennen, ohne dass jemand „gewinnen“ muss. Die Protagonist*innen tauschen sich aus über die Triggerthemen dieser Gesellschaft: Migration und Klima, Krieg und Gender. Sie sprechen über ihre Auffassungen von Demokratie und darüber, was schiefläuft in diesem Land, was uns trennt und spaltet, aber auch was sie sich für die Zukunft wünschen.
So wird jede*r verständlich mit seiner oder ihrer Perspektive, in seiner oder ihrer politischen Haltung. Und so wird auch deutlich, wie weit die Positionen auseinanderliegen, wie grundsätzlich unterschiedlich die Vorstellungen sind.
Die entscheidende Frage: Wieviel Pluralismus können wir aushalten?
Der Film zieht kein Fazit – das können die Zuschauenden selbst. Dabei wird deutlich, dass es keine einfache Antwort auf die Frage gibt „Sind wir noch ein Volk?“ und dass wir dringend reden müssen.
Die zentrale Frage lautet: Wieviel Pluralismus kann die deutsche Gesellschaft aushalten? Ist Meinungsvielfalt nicht auch Teil einer gesunden Demokratie, solange wir dem anderen mit seiner Meinung einen Raum geben?
Genau das fehlt in den Kampfformaten: die Bereitschaft, Menschen verständlich zu machen, statt sie vorzuführen. Reporterfabrik & Co. sind Infotainment für die eigene Bubble. „Sind wir noch ein Volk?“ ist anstrengender, weniger befriedigend für das eigene Bestätigungsbedürfnis – aber demokratisch essentiell.
Was wir wirklich brauchen
Wir brauchen mehr Formate, die nicht fragen „Wer hat gewonnen?“, sondern „Haben wir einander verstanden?“
Formate, die nicht darauf ausgelegt sind, Komplexität zu reduzieren, sondern sie auszuhalten.
Formate, die Menschen nicht als rhetorische Gegner*innen inszenieren, sondern als Mitglieder einer Gesellschaft, die irgendwie miteinander klarkommen muss.
Denn solange wir nur feiern, wer wen „zerstört“ hat, kommen wir keinen Schritt weiter. Dann bleibt es bei High Noon – und am Ende liegen nur mehr Leichen auf der Straße.
Zum Weiterschauen:
„Sind wir noch ein Volk?“ – MDR-Dokumentation, 29.09.2025
Was denkst du? Brauchen wir mehr Kampf-Formate oder mehr Dialog-Räume? Ich freue mich auf deine Perspektive in den Kommentaren.


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