Bundesverkehrsminister Patrick Schnieder (CDU) verkündet stolz: 16 Bundesstraßen- und sieben Autobahn-Neubauprojekte können nun begonnen werden. 710 Millionen Euro für Bundesstraßen, 3,6 Milliarden Euro für Autobahnen. Insgesamt 4,3 Milliarden Euro für neue Straßen.
Die Begründung? „Ein starkes Zeichen für das Land und das wichtige Netz der Bundesfernstraßen.“ Der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Bauindustrie jubelt: „Ein wichtiges Signal für den bauindustriellen Mittelstand.“
Und ich frage mich: In welcher Welt leben diese Menschen eigentlich?
Beton ist der „Baustoff des 20. Jahrhunderts“, doch sein ökologischer Fußabdruck ist enorm – bis zu 10 % der globalen CO₂-Emissionen stammen aus Zementherstellung. Spannende Zahlen finden sich auch hier (CO2-Emissionen von Infrastrukturprojekten im Straßenbau.) Autobahnbau in Berlin: 500.000 m³ Beton für die A 100.
Während 4,3 Milliarden Euro in neue Straßen fließen, sieht die Realität auf deutschen Straßen und Schienen so aus:
Brücken bröckeln. Tausende sind marode, sanierungsbedürftig, teilweise gesperrt. Der Rückstau ist gigantisch.
Züge fallen aus. Die Bahn ist chronisch unterfinanziert, das Netz veraltet, Verspätungen sind Normalität.
Der ÖPNV kämpft ums Überleben. Kommunen können sich Busse und Bahnen kaum noch leisten, Linien werden eingestellt, Takte ausgedünnt.
Radwege fehlen oder sind gefährlich. Sichere Infrastruktur für klimafreundliche Mobilität? Fehlanzeige.
Aber hey, wir bauen neue Autobahnen. Prioritäten, oder?
Schauen wir uns an, wofür diese 4,3 Milliarden Euro ausgegeben werden sollen:
„Lückenschlüsse oder Ortsumgehungen“ – klingt harmlos, oder? Aber was bedeutet das konkret?
Lückenschlüsse bedeuten oft: Neue Autobahnabschnitte, die bestehende Strecken verbinden. Mehr Asphalt, mehr versiegelte Fläche, mehr Verkehr.
Ortsumgehungen bedeuten: Straßen um Ortschaften herum bauen, damit der Durchgangsverkehr die Anwohner:innen nicht mehr stört. Klingt erstmal gut – aber was passiert tatsächlich? Neue Straßen erzeugen neuen Verkehr. Das ist wissenschaftlich belegt und nennt sich induzierter Verkehr: Wo neue Straßen gebaut werden, fahren mehr Autos. Nicht weniger.
Anna Piechotta, Grünen-Abgeordnete, bringt es auf den Punkt:
Neubauprojekte werden gegenüber der Instandhaltung vorhandener Straßen priorisiert.
Das ist der Kern des Problems. Wir bauen Neues, während das Alte verfällt.
Warum?
Weil Neubau politisch sexy ist. Weil man ein Band durchschneiden kann, eine Plakette enthüllen, ein Foto machen. Weil Neubau nach „Fortschritt“ aussieht.
Sanierung ist unsexy. Reparatur ist langweilig. Instandhaltung bringt keine Schlagzeilen.
Aber genau das bräuchten wir.
Stellen wir uns mal vor, diese 4,3 Milliarden Euro würden anders eingesetzt:
Für die Bahn:
- Marode Brücken sanieren
- Schienennetz modernisieren
- Bahnhöfe barrierefrei ausbauen
- Taktung verbessern
- Personal aufstocken
Für den ÖPNV:
- Kommunen bei der Finanzierung unterstützen
- Busse und Bahnen elektrifizieren
- Taktung verdichten
- Sozialtickets ausweiten
- Barrierefreiheit herstellen
Für Radinfrastruktur:
- Sichere, durchgängige Radwege bauen
- Kreuzungen entschärfen
- Fahrradstraßen einrichten
- Abstellanlagen schaffen
Für die Straße (ja, auch das!):
- Brücken sanieren, bevor sie einstürzen
- Straßenschäden beheben
- Lärmschutz verbessern
Wir investieren Milliarden in eine Infrastruktur von gestern, während die Welt von morgen längst Gestalt annimmt.
Die Automobilindustrie befindet sich im Umbruch. E-Mobilität setzt sich durch – ob wir wollen oder nicht. Carsharing wächst. Junge Menschen kaufen seltener Autos. Städte denken Mobilität neu.
Und die Politik? Baut Autobahnen.
Das ist, als würde man 2025 noch Telefonzellen aufstellen. Oder Videotheken eröffnen. Oder in Kohlekraftwerke investieren.
Es ist der Versuch, eine Vergangenheit zu retten, die nicht mehr zu retten ist.
Minister Schnieder spricht von einem „starken Zeichen für das Land“. Ja, das ist es. Aber es ist leider ein falsches Zeichen.
Es ist ein Zeichen dafür, dass diese Regierung…
- … die Klimakrise nicht ernst nimmt
- … wissenschaftliche Erkenntnisse ignoriert
- … die Bedürfnisse der Menschen missversteht (Verstehen startet beim Zuhören)
- … Lobbyinteressen über Gemeinwohl stellt
Die Verteilung: wer profitiert?
Schauen wir uns an, wo die Projekte umgesetzt werden sollen:
- Sechs Vorhaben in Bayern
- Vier Vorhaben in Nordrhein-Westfalen
- Drei Vorhaben in Hessen
- Finanziert von einem Bund aus zwölf Bundesländern, umgesetzt in drei
Bayern führt die Liste an. Überraschung? Nicht wirklich. Die CSU ist seit Jahrzehnten die Partei des Straßenbaus. Ministerpräsident Markus Söder fordert regelmäßig mehr Geld vom Bund für bayerische Infrastruktur.
NRW und Hessen folgen. Beides sind Bundesländer mit starker Automobilindustrie und starken Lobbyverbänden.
Die Frage ist: Wer hat diese Projekte politisch durchgesetzt? Und wessen Interessen dienen sie?
Der bauindustrielle Mittelstand freut sich
Der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Bauindustrie spricht von einem „wichtigen Signal für den bauindustriellen Mittelstand“.
Ja, natürlich. Die Bauindustrie profitiert von Neubauprojekten. Das ist ihr Geschäftsmodell.
Aber ist das alleine ein Argument für sinnvolle Politik?
Nein.
Genauso gut könnte man argumentieren: „Wir müssen weiter Kohle fördern, weil die Kohleindustrie davon profitiert.“ Oder: „Wir müssen weiter Zigaretten verkaufen, weil die Tabakindustrie davon profitiert.“
Das Wohl einer Branche ist kein Argument für schlechte Politik.
Deutschland braucht keine neuen Autobahnen. Deutschland braucht:
1. Erhalt vor Neubau: Sanieren, was kaputt ist, bevor Neues gebaut wird.
2. Investitionen in klimafreundliche Mobilität: Bahn, ÖPNV, Radinfrastruktur – das ist die Zukunft und würde sofort in der Gegenwart Wirkung entfalten
3. Mut zur Priorisierung: Nicht alles gleichzeitig. Sondern: Klare Schwerpunkte setzen.
4. Ehrlichkeit gegenüber den Bürger:innen: Keine Symbolpolitik. Keine Geschenke an Lobbyverbände. Sondern: Politik, die den Herausforderungen unserer Zeit gerecht wird.
Mein Fazit
4,3 Milliarden Euro für neue Straßen in Zeiten von Klimakrise, maroder Bahninfrastruktur und unterfinanziertem ÖPNV sind nicht „ein starkes Zeichen für das Land“.
Sie sind ein Verrat an der Zukunft.
Ein Verrat an den Menschen, die auf funktionierende Züge angewiesen sind.
Ein Verrat an den Kommunen, die ihren ÖPNV nicht mehr finanzieren können.
Ein Verrat an der jungen Generation, die mit den Folgen dieser Fehlentscheidungen leben muss.
Und ein Beweis dafür, dass diese Regierung die Zeichen der Zeit nicht verstanden hat.
Während die Welt weiterzieht, baut Deutschland Autobahnen. Als gäbe es kein Morgen.
Aber genau das ist das Problem: Wenn wir so weitermachen, wird es kein lebenswertes Morgen mehr geben.


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