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Zu Gast beim MDR: Mobilitätsexpertin: Autofahren ist noch zu billig

Mobilität sollte für alle da sein, findet Katja Diehl. Die Hamburger Mobilitätsexpertin bemängelt im Interview mit MDR AKTUELL, das Auto stehe noch immer zu sehr im Mittelpunkt von Verkehrspolitik. Es sei zu bedenken, dass nicht alle mit Lust und Laune ins Auto stiegen. Chancen und Möglichkeiten gebe es genug. Sie müssten nur genutzt werden. Aber das gehe in Deutschland noch zu langsam.

Egal ob Stadt oder Land – sobald man vor die Tür tritt: Autos weit und breit. Das ist Katja Diehl ein Dorn im Auge. Doch Verteufeln allein bringt nichts, also hat die Mobilitätsexpertin ein Buch geschrieben. Darin eingeflossen sind etwa 60 Interviews mit Autofahrenden über ihre Gründe und Erfahrungen. Im Interview mit MDR AKTUELL beschreibt Katja Diehl, was sie gelernt hat.

Sie haben Ihr gerade erschienenes Buch „Autokorrektur“ genannt. Was muss Ihrer Meinung nach korrigiert werden in Sachen Autos?

Für mich ist das Auto eine gute Sache, die auch gar nicht unbedingt verschwinden, sondern anders genutzt werden soll. Was wir gerade falsch machen: Wir unterstellen bei jeder Person, die Auto fährt, dass diese Person das freiwillig mit Lust und Laune macht und dass die Person sich dafür entschieden hat. Das ist meiner Meinung nach eine Fehleinschätzung, die dazu führt, dass wir feiern, wenn neue Pkw auf die Straßen kommen – 400.000 etwa im Jahr 2021. Das ist kein Erfolg der Autoindustrie, sondern ein Symptom dafür, dass die Verkehrspolitik versagt. Wenn es eine Gleichberechtigung zwischen allen Verkehrsmitteln gäbe, würden irgendwann weniger Autos verkauft werden. Denn in ein Auto investieren Menschen mehrere Hundert Euro im Monat. Menschen, die in Armut leben oder gar nicht Auto fahren wollen, machen es dennoch, weil ihnen die Alternativen fehlen.

Sie beschreiben in Ihrem Buch einen Zusammenhang zwischen sozio-ökonomischer Situation und Mobilität. Können Sie das näher ausführen?

Wir sehen im Moment an der Diskussion um die ominöse Spritpreisbremse, dass sich sehr gut verdienende Herren vor Tankstellen positionieren und sagen „das geht so nicht weiter“. Sie sprechen dabei eine Klientel an, die die Preissteigerung nicht wirklich juckt. Mir geht es um die Menschen, die das Auto als Belastung sehen und die diese in Kauf nehmen, um ihr Leben zu regeln. Ich habe in meinem Buch gefragt: Willst du oder musst du Auto fahren? Ganz viele haben dann erst einmal gestutzt, weil sie sich über diese Frage noch gar keine Gedanken gemacht hatten. Viele haben dann gesagt, gäbe es gute und sichere Alternativen, dann würde ich gar nicht Auto fahren. Außerdem habe ich die Leute gefragt: Könnte ein Mensch ohne Auto dein Leben leben? Und das haben ganz viele verneint. Das heißt im Umkehrschluss: 13 Millionen Erwachsene ohne Führerschein werden in Deutschland ausgeschlossen. Sollen also etwa Menschen ohne Führerschein nicht im ländlichen Raum leben? Hier gibt es viele blinde Flecken, weil wir alle denken „meine Mobilität ist auch deine Mobilität“.

Wenn Sie diese „blinden Flecken“ bei der Mobilitätswende ansprechen, wie sehr sind diese durch tatsächliche Gegebenheiten bedingt und wie viel ist Psychologie?

Ich bin in den 70er-Jahren geboren. Autos im Stadtbild waren für mich so normal wie Bäume und Bänke. Ich war es gewohnt, dass überall um mich herum Autos sind. Ich habe das auch nicht von Anfang an hinterfragt. Zu Fuß, mit dem E-Bike oder Fahrrad, mit dem Scooter oder der Tram – für Katja Diehl gibt es im Individualverkehr viele Alternativen zum Auto. Allein am politischen Willen fehlt es nach ihrem Geschmack, die Mobilitätswende im großen Stil voranzutreiben. Bildrechte: Amac Garbe

Der blinde Fleck liegt meines Erachtens nicht nur bei der Mobilität selbst, sondern bei der Gestaltung von Städten und Dörfern. Die war ja einst gesund. Das erinnern nur Menschen nicht, die in den 90ern in die autozentrierte Welt geboren sind. Wir haben eine Art Todesspirale bei der Gleichberechtigung von Mobilität in Gang gesetzt, indem wir das Auto priorisiert haben. Wir haben uns zu sehr auf die Autoindustrie fokussiert, und diese Abhängigkeit ist nicht gesund.

Gleichzeitig geht es nicht nur um die Mobilitätswende, sondern auch um alle die anderen Probleme bei der gesellschaftlichen Transformation. Wir kümmern uns nicht um Minderheiten. Unsere Welt ist sehr männlich aufgebaut und orientiert an den klassischen Erwerbsarbeitenden. In der Pflege arbeiten 80 Prozent Frauen, in der Mobilitätsbranche 80 Prozent Männer. Wenn ich mit dem Auto unterwegs bin, funktioniert das Leben aber erst einmal. Es ist ein Tabubruch, das Auto infrage zu stellen.

Welches Umdenken könnte bei allen zu mehr Lebensqualität führen – also auch bei denen, die sich Autofahren prinzipiell gut leisten können?

Es gibt ja jetzt sieben neue Radprofessoren und -professorinnen in Deutschland, die noch Andreas Scheuer (Ex-Verkehrsminister, Anm. d. Red.) berufen hat. Eine von ihnen berechnet ihre Zeit im Zug zum Beispiel nicht als reine Mobilitätszeit, wenn sie im Zug auch gearbeitet hat. Sie sagt dann zum Beispiel, dass sie von Hamburg nach Berlin zum Arbeitsplatz 15 Minuten braucht. Sie berechnet also nur die Fahrradzeit von Bahnhof zu Bahnhof. Der Rest ist Arbeitszeit. Das ist ein spannender Ansatz. Es zeigt, dass wir Lebenszeit verschwenden. Wir brauchen andere Werte, sonst verändert sich das System nicht. Das Auto als Statussymbol, die 40-Stunden-Woche oder das Auslaufen der Homeoffice-Pflicht müssen auf den Prüfstand.

Sie fordern in Ihrem Buch eine Mobilität für alle. Wie könnte die Ihrer Meinung nach aussehen und wie kommt die Gesellschaft dort hin?

Eine Mobilität für alle müsste anerkennen, dass alle Menschen gleich sind und ein Recht auf Unversehrtheit haben. So wie es im Grundgesetz steht. Aktuell munitionieren sich alle, die nicht im Auto sitzen, mit Fahrradhelmen, Warnwesten, Blinkern und Verkehrserziehung. Durch das Auto gibt es ein krasses Kräfteungleichgewicht. Wenn ich zwei Tonnen Stahl um mich herum habe und einen Unfall mit einer Fußgängerin, ist die Wahrscheinlichkeit, dass es mir schlechter geht als der Fußgängerin, relativ gering. In Helsinki etwa gibt es seit 2019 keine Verkehrstoten mehr. Dort haben sie sich die „Vision Zero“ als echtes Ziel genommen. Bei uns sterben noch jeden Tag acht Menschen im Straßenverkehr und wir finden das irgendwie ganz normal.

Was muss sich ändern, damit weniger Autos auf den Straßen unterwegs sind?

Zunächst einmal brauchen wir Ziele. Wir haben das Pariser Klimaabkommen weder in die Wahlprogramme bekommen, noch in den Koalitionsvertrag. Verkehr macht seit den 1990er-Jahren 20 Prozent der Emissionen aus. Er ist über den Reifenabrieb einer der größten Mikroplastikerzeuger. Autos stressen und klauen Raum. Anfangen müssen wir sicher in der Stadt. Wir können aber nicht nur Angebote schaffen, sondern müssen Autofahren auch unbequemer machen. Wir können einfach zu unseren Nachbarn schauen. In Paris hat die Bürgermeisterin Tempo 30 ausgerufen. Dadurch werden nicht nur Emissionen eingespart, es gibt auch weniger Verletzungen. In „Superblocks“ in Barcelona dürfen nur noch Anlieger fahren, alle anderen müssen außen herum. Wir könnten wie in Wien, die Preise fürs Parken erhöhen und die Erlöse in den ÖPNV stecken. Wir müssen sichere Wege auf dem Rad und zu Fuß gewährleisten. Carsharing könnte auch auf dem Land etabliert werden.

Grundsätzlich müssen wir akzeptieren, dass die Autozentrierung irrelevant geworden ist – sei es aus sozialen oder Gründen der Klimagerechtigkeit. Hier braucht es Maßnahmen, die den Ausstieg erleichtern. Autofahren ist noch zu billig und es fehlen Alternativen.

Was sollte sich Ihrer Meinung nach bei Steueranreizen und Subventionen ändern?

Subventionen müssen Mobilitätssubventionen werden. Eine Mobilitätsprämie für alle anstelle des Dienstwagenprivilegs oder einer Spritpreisbremse. Die Bahncard könnte als Aktion zeitweise billiger gemacht werden. In Österreich gibt es das Klimaticket, mit dem man ganzjährig für wenig Geld alle öffentlichen Nahverkehrsmittel nutzen kann. In diese Richtung müssten einfach mal Angebote gemacht werden. Das heißt ja noch nicht, dass das Auto abgeschafft wird.

Die Vorschläge, die Sie nennen, konzentrieren sich stark auf Städte. Wie kann es denn im ländlichen Raum besser werden?

Im ländlichen Raum gibt es das Problem der Mobilitätslücken. Wege zu Haltestellen und Bahnhöfen sind zu weit. Dafür könnten Leih-Scooter und Leih-Räder aufs Land gebracht werden. Auch On-Demand-Systeme ohne feste Haltestellen sind hier eine Lösung. So können Fahrten geteilt werden mit Leuten, die in dieselbe Richtung wollen. Auf Landstraßen sollte eine Spur für Radwege zur Verfügung gestellt werden, damit Radfahren dort weniger gefährlich wird.

Auf welcher Ebene sollte die von Ihnen genannten Maßnahmen umgesetzt werden? Sehen Sie da mehr Bund und Länder oder eher die Kommunen am Zug?

Ich finde es wichtig, dass nicht die Ubers dieser Welt unsere Mobilitätswende machen. Die regionale Wertschöpfung und das Datensystem sollten in Deutschland oder Europa behalten werden. Die Leute, die vor Ort leben, wissen am besten, wo die Mobilitätslücken sind. Dann kann man sich jemanden dazuholen, der einen Algorithmus baut. Da pennen die Deutschen leider noch etwas. Aber wenn alle Kernkompetenzen vor Ort gebündelt werden können, ist da auf jeden Fall Musik drin.

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