Das Buch könnt ihr hier erwerben, unser Gespräch, aus dem dieser Auszug entstand, hier nachhören.
DER VERKEHR
Wie wir das War-schon-immer-so infrage stellen können
DIE ZAHL
49 Millionen Autos sind in Deutschland zugelassen. Das sind 580 Autos pro 1000 Einwohnerinnen und Einwonner, und das bedeutet: Jeder Deutsche kann statistisch gesehen auf dem Vordersitz eines Autos Platz nehmen. Gleichzeitig entstehen im Verkehrssektor rund ein Fünftel aller Emissionen der Bundesrepublik, und dieser Sektor ist (neben den Gebäuden) auch derjenige, in dem regelmäßig die deutschen Klimaschutzziele verfehlt werden, und zwar deutlich. Hier wurde seit 1990 erheblich weniger reduziert als in anderen Bereichen.
Und den größten Anteil an den Verkehrsemissionen hat – der Pkw.
DAS INTRO
Verkehr ist eine merkwürdige Angelegenheit. Jeder ärgert sich darü-ber, und das fast jeden Tag. Dennoch ändert sich nur sehr, sehr wenig daran – jedenfalls in Deutschland. Was vielleicht damit zu tun hat, dass viele Menschen zwar im Stau stehen, sich aber dabei nicht selbst als Teil des Staus, also als Teil des Problems fühlen. Verkehrshindernisse sind immer die anderen, die einem mit ihrem Auto oder eben per Rad, Bus oder zu Fuß den Weg versperren.
Und noch etwas ist merkwürdig: Zwar wird viel über Staus, Abgase und die Mengen an Autos geschimpft, immer wieder wird in der Politik über die Verkehrswende debattiert, ein Tempolimit, die Klimaschädlichkeit der vielen Autos oder den immensen Platzver-brauch. Am Kaufverhalten hat sich jedoch wenig geändert. Die Zahl der zugelassenen Pkw ist in den vergangenen zehn Jahren durchgehend gestiegen. Längst geht der Trend in so mancher Familie zum Zweit- oder Drittwagen. Und anders als in anderen europäischen Ländern fahren auf deutschen Straßen heute noch über 90 Prozent der Autos mit Diesel oder Benzin, was ein riesiges Problem fürs
Klima ist.
Ein Fünftel der deutschen CO2-Emissionen geht auf das Konto des Verkehrs. Der Expertenrat Klima, ein Beratungsgremium der vergangenen Bundesregierung, hat berechnet: Wollte die Politik ihre eigenen Klimaziele erreichen, müsste sie ihre Anstrengungen verdreißigfachen. Die nötigen politischen Maßnahmen sind bekannt: Die Politik müsste dafür sorgen, dass sich die Konsumenten beim Kauf eines neuen Wagens viel häufiger für ein E-Auto entscheiden, sei es durch Kaufprämien, sei es durch den Ausbau des Ladenetzes. Sie müsste das Bahnnetz zuverlässiger machen und das Bahnfahren billiger. Sie müsste Menschen dazu bringen, in großer Zahl vom Auto auf Bus, Bahn oder Rad umzusteigen. Und sie müsste das Fliegen viel, viel teurer machen – schließlich ist kein anderes Fortbewegungsmittel so schlecht fürs Klima wie das Flugzeug.
All das passiert jedoch in Deutschland nicht oder nur sehr langsam.
Nur, warum ist das so? Eine, eigentlich sogar zwei Erklärungen dafür hat uns Belit Onay gegeben, der Oberbürgermeister von Hannover. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe der damalige Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht die zerstörte Metropole nach neuen Vorstellungen wieder aufgebaut. »Es war klar, das Auto steht im Fokus jeglicher städtischer Planungen. Das hat man brutalst durchgesetzt.«, sagte Onay im Krisenpodcast. (Hinweis: In der She Drives Mobility Academy befindet sich ein langes Interview mit ihm!)
Und das längst nicht nur in Hannover. In Köln wurde die Nord-Süd-Fahrt durch die Innenstadt geschlagen, in Hamburg die sechsspurige Ost-West-Straße, die heute Willy-Brandt-Straße heißt. Und in Berlin wird heute am teuersten Autobahnabschnitt der Republik gebaut, der A100 von Berlin-Neukölln nach Prenzlauer Berg. Eine aktuelle Schätzung geht von umgerechnet rund 246 000 Euro pro Meter Straße aus. Breite Verkehrsschneisen, zugeschnitten auf die Bedürfnisse des Individualverkehrs, prägen bis heute so manche Stadt, und nur hier und da versuchen sich mutige Menschen in der Kommunalpolitik an einem Rückbau der Infrastruktur, um mehr Raum für Menschen zu schaffen, die zu Fuß unterwegs sind oder mit dem Rad. So wie Onay, er war Ende 2019, auf dem Höhepunkt der Fridays-for-Future-Bewegung, gewählt worden mit dem Versprechen, die Innenstadt nahezu autofrei zu machen, dafür neue Radwege und besseren Nahverkehr bis ins Umland zu schaffen. Aber zwischen seinem Besuch in unserem Podcast-Studio Ende 2023 und der Veröffentlichung der Episode Anfang 2024 kam ihm dann die Koalitionspartnerin abhanden und damit die Mehrheit: Die SPD hatte die Koalition mit Onays Grünen im Streit um die Verkehrspolitik verlassen. Sie hatte wohl schlicht Angst, es sich mit der Autolobby zu verderben – und auch vor dem möglichen Erfolg des Grünen.
Einen weiteren Grund für Deutschlands Schneckentempo bei der Verkehrswende formulierte der Präsident des Umweltbundesamtes (UBA), Dirk Messner, im Krisenpodcast: Ein Land, dessen auf Verbrennermotoren fußende Autoindustrie »Weltklasse sei und die quasi eine »Gelddruckmaschine« darstelle, habe vielleicht einfach kein so starkes Interesse daran, die Elektrifizierung des Verkehrs voranzubringen.« »Die Vergangenheitsinteressen sind immer besser organisiert als die Zukunftsinteressen«, sagte Messner, schließlich müssten die Akteure der Zukunft ja überhaupt erst einmal entstehen und sich organisieren.
Dabei zeigen andere Länder längst, dass da etwas geht. In Norwegen kann man lernen, wie der Umstieg aufs E-Auto funktioniert.
Österreich und die Schweiz zeigen, dass Bahnen pünktlich und zuverlässig sein können – was den Umstieg leichter macht. Städte wie Paris, Kopenhagen, London, Tallinn und Luxemburg werden immer schöner, seit sie den öffentlichen Raum weniger für Parkplätze und Autostraßen nutzen – und die Menschen trotzdem schnell (dank Bussen, Rädern und Straßenbahnen) vorankommen. Hat Deutschland also ein besonderes Problem?
Welcher Fehlschluss im kollektiven Unterbewusstsein führt dazu, dass beim Wort »Verkehr« sofort alle übers Auto sprechen und damit bis heute in aller Regel Personenkraftwagen im Privatbesitz meinen? Wie viel Wende steckt in der Verkehrswende, solange man die vor allem als Austauschprogramm betrachtet: Autos mit Diesel- und Benzinantrieb ersetzen durch solche mit Elektromotoren, ansonsten ändert sich nichts (weder die Besitzverhältnisse noch die Infrastruktur oder das Nutzerverhalten)? Solange diese Fragen unbeantwortet bleiben, ist es wohl gar kein Wunder, dass all die Veränderungen nicht vorankommen, und dass wir so sehr eine Autogesellschaft bleiben.
Wie eine Verkehrswende in den Köpfen stattfinden könnte, und woran es da hakt, haben wir mit Katja
Diehl besprochen.
DIE EXPERTIN
Katja Diehl ist wohl Deutschlands bekannteste Kritikerin der gegenwärtigen Mobilitätsverhältnisse. Die Hamburgerin hat in einem großen Logistikunternehmen, bei den Stadtwerken von Osnabrück und in einem regionalen Nahverkehrsunternehmen gearbeitet, zuletzt in leitender Funktion. 2016 machte sie sich selbstständig als Beraterin für eine inklusive, ökologisch und sozial gerechte Verkehrswende. Ihr Buch »Autokorrektur« (2022) machte sie bekannt, als she drives mobility veröffentlicht sie Newsletter und Podcasts. Ihr zweites Buch, »Raus aus der Autokratie«, erschien 2024.
Man könnte sagen: Sie ist eine Verkehrswenderin.
DAS GESPRÄCH
Auch das noch
Frau Diehl, was macht eine Verkehrsaktivistin?
Katja Diehl
Ich erzähle die Geschichten derjenigen, die zur Automobilität gezwungen sind, weil sie von unserer Gesellschaft nichts anderes bekommen. Ich erzähle aber auch die Geschichten derjenigen, die von Automobilität ausgeschlossen sind. Etwa die Leute, die im ländlichen Raum auf das Auto angewiesen sind, sich aber keines leisten können. Das sind zum Beispiel auch Menschen, die aufgrund von Behinderung keinen Führerschein machen können, oder natürlich die 13 Millionen Kinder, die nicht selbst Auto fahren können. Und ich spreche auch über Menschen, die Angehörige an Autounfälle verlieren. Beinahe acht Tote sind das Tag für Tag und über tausend Verletzte. Ich erinnere daran, dass die vision zero, die Vision von einem Alltag ohne Verkehrstote, kein Traum bleiben muss. Und nicht zuletzt erinnere ich daran, dass unsere Automobilgesellschaft kein Naturzustand Ist. Im Gegenteil, dieser Zustand wurde geschaffen und er kann auch überwunden werden.
ADN
Wenn Sie sich öffentlich so äußern, dann werden Sie massiv angefeindet. Können Sie sich erklären, warum dieses Thema manche Leute so triggert?
Diehl
Für viele bin ich heute die Frau, die Autos hasst. Dabei stimmt das einfach nicht. Ich habe selbst einen Führerschein und fahre Auto im ländlichen Raum, wo meine Eltern leben und mich als Chauffeurin brauchen. Es sind übrigens vor allem Männer, die ausfallend werden. Wenn sich Dinge ändern sollen, müssen Menschen auch ihr Verhalten ändern. Denken wir an die Zeit vor dem Rauchverbot: Da gab es vorher heftige Debatten über den Nichtraucherschutz, wie weit der gehen dürfte, ob das nicht alles übertrieben sei, jeder könne doch selbst entscheiden.
Und heute? Da kann sich doch niemand mehr vorstellen, beim Arzt oder im Restaurant zu sitzen, während nebenan jemand eine Zigarette raucht. Auch in der Mobilität erleben wir gerade die klassische Eskalation vor der Veränderung. Und da wird eben auch die Botschafterin gern mal beschimpft.
ADN
Das klingt, als sei die Veränderung ausgemacht. Aber was, wenn die Mehrheit der Menschen gar keine Verkehrswende will?
Immerhin kaufen die Leute bis heute immer mehr Autos.
Diehl
Die Mehrheit wird immer für den Status quo stimmen, schon weil sie sich nichts anderes vorstellen kann! Auch das Frauenwahlrecht wurde nicht durch eine Mehrheit nach vorne gebracht, sondern von entschlossenen Frauenrechtlerinnen, den Suffragetten. Die waren viel härter drauf als die Letzte Generation heute.
Oder nehmen wir ein Beispiel, das näher an unserem Thema ist:
Stoppt den Kindermord, so hieß in den 1970er Jahren eine Bewegung in den Niederlanden. Sie ging aus von einem Vater, der seine Tochter an den Autoverkehr verloren hatte. Aus Protest haben sich dort bald Tausende Menschen auf die Straßen gelegt.
Deswegen haben die Niederlande heute auch so eine gute Fahrradinfrastruktur. Dass eine Mehrheit eine Veränderung erst mal nicht will, ist für mich also noch kein Argument dafür, dass diese falsch ist. Übrigens gibt es ja immer mehr Politiker*innen, die das offenbar ähnlich sehen. Sie machen elne andere Verkehrspolltik und überzeugen die Menschen davon.
ADN
Wer zum Beispiel?
Diehl
Anne Hidalgo, die Oberbürgermelsterin von Paris. (Wenn euch hier Hintergründe interessieren, hört euch gern das Interview mit Carlos Moreono an!) Auch sie erfährt dafür übrigens Hass bis hin zu Morddrohungen. Aber Hidalgo baut ihre Stadt trotzdem konsequent weiter um, begrünt die Autoabstellflächen und gibt sie den Menschen zurück. Mittlerweile ist sie in ihrer zweiten Amtszeit, sie wurde dafür wiedergewählt.
Ich mag auch das Beispiel von Filip Watteeuw. Das ist der Bürgermeister, der Gent in Belgien autofrei gemacht hat. (Das Gespräch mit ihm findet ihr hier.)
Watteeuw hat gesagt: Ich stelle mich für eine Mission zur Wahl und nicht für meine Wiederwählbarkeit. An solchen Leuten fehlt es uns. Wir haben dafür Markus Söder, der uns von Technologieoffenheit und von E-Fuels und von ich weiß nicht was erzählt …
ADN
Würde sich denn in der Verkehrspolitik nachhaltig etwas ändern, wenn sie nicht wie bisher fast ausschließlich von Männern eines bestimmten Alters gemacht würde und wenn wir stattdessen eine Verkehrsministerin mit einem Beirat aus Kindern und älteren Menschen hätten?
Diehl
Zumindest müsste die Verkehrspolitik ein Abbild der Gesellschaft sein. Schon beim Bundestag haben wir da ein Problem, wie soll es ausgerechnet bei diesem Thema anders sein? Aber ich glaube, speziell hier kommt noch etwas viel Grundsätzlicheres dazu, und zwar bei vielen von uns: Die Sehnsucht nach einem grün lackierten »Weiter so« ist unglaublich groß. Ich kann das verstehen, es schmerzt einfach anzuerkennen, wie privilegiert wir hier im globalen Norden sind und wie sehr die Klimakatastrophe auf unser Verhalten und unseren Konsum zurückzuführen ist. Dazu gehört auch, wie sehr unsere Art des Verkehrs anderswo die Natur zerstört.
ADN
Also über die Belastung der Atmosphäre mit Treibhausgasen hinaus, wegen der unser Verkehr ja elektrifiziert werden soll?
Diehl
Ja, wer erst einmal bereit ist, das globale Bild zu betrachten, sieht auch die E-Mobilität nicht mehr als Lösung aller Probleme. Sicher ist: Elektroautos retten vielleicht die Autoindustrie, aber bestimmt nicht die Umwelt. Denn sie führen in fernen Ländern beispielsweise zum Abbau von Lithium, von Kobalt, von Nickel, was ökologisch und sozial eine ziemlich dreckige Angelegenheit ist. Bisher fehlt es uns allen an der Demut, das anzuerkennen und dafür die Verantwortung zu übernehmen.


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