Warum wir über Diversität in der Verkehrsbranche reden müssen.
Gestern erreichte mich die Referierenden-Liste einer großen deutschen Mobilitätsmesse. Rund 100 Expert:innen, die über die Zukunft des Verkehrs sprechen werden. ÖPNV-Elektrifizierung, autonome Busse, Verkehrsverbünde der Zukunft – alles dabei.
Und dann habe ich gezählt.
- Von etwa 100 Vortragenden sind 75-80% männlich.
- Menschen mit erkennbarem Migrationshintergrund? Vereinzelt – vielleicht 2-3%.
- Menschen mit Behinderungen? Nicht erkennbar.
- Keynote-Speaker? Ein Mann. Aus der Tech-/Zukunftsforschungs-Szene. Natürlich.
- Das Panel zu Menschenrechten und sozialer Teilhabe? Ein Nebenpanel. Nicht die Keynote. Nicht die Hauptbühne. Ein Nebenpanel.
Bevor ich weiterschreibe: Das ist kein Angriff auf die Organisierenden dieser Messe.
Ich habe mich in der Vergangenheit mehrfach an Organisierende dieser Konferenzen gewandt. Ich habe lösungsorientierte Hinweise platziert. Ich habe konkrete Vorschläge gemacht. Und ich weiß: Die Menschen hinter solchen Veranstaltungen wollen es oft besser machen. Sie stecken in Strukturen, Netzwerken und Erwartungen fest, die über Jahre gewachsen sind.
Was ich hier adressiere, ist kein individuelles Versagen. Es ist ein Systemfehler.
Ein Systemfehler, der die gesamte Mobilitätsbranche durchzieht:
Das Muster ist überall dasselbe: Wir reden über Mobilität, aber nicht mit allen, für die wir sie gestalten.
Warum das ein Problem ist
Mobilität ist kein technisches Problem. Mobilität ist eine Gerechtigkeitsfrage.
Wer zur Arbeit kommt und wer nicht. Wer am öffentlichen Leben teilhaben kann und wer ausgeschlossen bleibt. Wer sich sichere Fortbewegung leisten kann und wer nicht.
Wenn wir über Mobilität sprechen, sprechen wir über Teilhabe. Und zwar für alle.
Aber wie soll das funktionieren, wenn die Bühnen von denselben Perspektiven dominiert werden? Wenn 75% der Vortragenden männlich sind? Wenn Menschen mit Behinderungen – für die Barrierefreiheit buchstäblich über Teilhabe entscheidet – auf der Bühne nicht sichtbar sind?
Dann reden wir nicht über Mobilität für alle. Dann reden wir über Mobilität für diejenigen, die schon immer am Tisch saßen.
Das ist kein Einzelfall. Das ist ein Muster. Und es zieht sich durch die gesamte Mobilitätsbranche.
Ich habe in den letzten Jahren unzählige Konferenzen, Podien und Messen besucht oder beobachtet – aus allen Bereichen:
Automobilindustrie:
Männerdominierte Panels über E-Mobilität, autonomes Fahren, Batterietechnologie. Soziale Fragen? Fehlanzeige. Menschen mit Behinderungen? Unsichtbar.
ÖPNV-Branche:
Besser, aber nicht gut genug. Verkehrsbetriebe, Verbünde, Ministerien – immer noch überwiegend dieselben Gesichter. Diversität als „nice to have“, nicht als Voraussetzung für gute Politik.
Fahrrad- und Mikromobilitäts-Szene:
Jung, urban, oft progressiv. Aber auch hier: Wo sind die Perspektiven von Menschen, die nicht fit, jung und privilegiert sind? Wo sind die Stimmen derjenigen, für die Radfahren keine lifestyle-Entscheidung ist, sondern ökonomische Notwendigkeit – oder eben keine Option, weil die Infrastruktur fehlt?
Das Ergebnis:
- Männerdominierte Panels über Technologie, Innovation, Infrastruktur
- Frauen, wenn überhaupt, in Nebenrollen oder bei „weichen“ Themen wie Kommunikation und Nutzer:innen-Perspektiven
- Menschen mit Behinderungen fehlen fast komplett – obwohl sie Expert:innen für Barrieren sind
- Menschen mit Migrationsgeschichte, Arme, Kinder, Alte sind unterrepräsentiert – obwohl gerade sie oft auf ÖPNV angewiesen sind
- Soziale Gerechtigkeit als Randthema, nicht als Kern der Debatte
Und dann wundern wir uns, warum Verkehrspolitik so oft an den Bedürfnissen von Frauen, Kindern, alten Menschen, Menschen mit Behinderungen vorbeigeht.
Es geht nicht um Quote. Es geht um Qualität.
Ich höre schon die Einwände:
„Aber es gibt doch nicht genug qualifizierte Frauen/diverse Menschen in der Branche!“
Doch. Die gibt es. Ihr fragt nur nicht.
„Wir wollen doch die besten Referent:innen!“
Dann fragt euch: Was macht Menschen aus, die „beste*r Referent*in“ sind? Ist es der zehnte Vortrag über autonome Busse von einem männlichen Technologie-Manager? Oder wäre es vielleicht wertvoller, von einer Rollstuhlfahrerin zu hören, warum deutsche Bahnhöfe immer noch Mobilitäts-Alpträume sind?
„Das ist doch Symbolpolitik!“
Nein. Es ist Realitätspolitik. Wenn die Menschen, die Mobilität planen, nicht die Gesellschaft abbilden, für die sie planen, dann planen sie an der Realität vorbei.
Was das mit mir macht
Ich bin es leid.
Leid, auf Panels zu sitzen, wo ich die einzige Frau bin.
Leid, Mobilitätsmessen zu besuchen, auf denen 80% der Vortragenden aussehen wie aus einem Industrieverbandsvorstand von 1995.
Leid, zu erklären, warum Diversität keine „nice-to-have“-Dekoration ist, sondern die Voraussetzung für gute Verkehrspolitik.
Und vor allem: Leid, dass wir 2025 immer noch darüber diskutieren müssen – obwohl ich und viele andere seit Jahren darauf hinweisen.
Was jetzt passieren muss
An alle Veranstalter:innen von Mobilitätskonferenzen, -messen, -tagungen – egal ob Auto, ÖPNV oder Rad:
1. Richtet Diversitätsbeiräte ein.
Menschen, die nicht aus der üblichen Verkehrsbranchen-Bubble kommen. Die sicherstellen, dass nicht Jahr für Jahr dieselben Stimmen dieselben Themen besprechen.
2. Macht das Grundrecht auf Mobilität zur Keynote.
Nicht zum Nebenpanel. Soziale Teilhabe ist kein Randthema. Es ist der Kern.
3. Fragt aktiv nach diversen Perspektiven.
Es gibt Rollstuhlfahrer:innen, die Expert:innen für Barrierefreiheit sind. Es gibt Migrant:innen, die Expert:innen für ÖPNV-Nutzung sind. Es gibt Mütter, die Expert:innen für kinderfreundliche Mobilität sind. Ihr müsst sie nur einladen.
4. Hört auf, euch rauszureden.
„Wir haben gefragt, aber niemand hatte Zeit“ ist keine Ausrede. Es bedeutet: Ihr habt zu spät gefragt, zu halbherzig gesucht, zu wenig Netzwerk außerhalb eurer Bubble.
5. Macht es strukturell.
Diversität darf nicht davon abhängen, ob eine einzelne engagierte Person in der Orga sitzt. Es muss Standard werden. Verpflichtend. Selbstverständlich.
An die Branche: Wir müssen reden
Das hier ist kein Angriff auf einzelne Menschen oder Organisationen.
Es ist ein Appell an die gesamte Mobilitätsbranche: Auto, ÖPNV, Rad, Mikromobilität, Logistik – wir alle.
Wir haben ein strukturelles Problem. Und wir lösen es nicht, indem wir einzelne Veranstaltungen kritisieren. Wir lösen es, indem wir anerkennen: Das System ist kaputt.
Ein System, in dem:
- Netzwerke sich selbst reproduzieren
- „Expertise“ gleichgesetzt wird mit „war schon immer dabei“
- Diversität als Zusatzaufwand gesehen wird, nicht als Qualitätsmerkmal
- Soziale Gerechtigkeit als Randthema behandelt wird, obwohl sie der Kern ist
Wir müssen dieses System ändern. Alle zusammen.
Zum Schluss
Mobilität für alle bedeutet: Alle müssen mitreden dürfen.
Nicht nur die, die schon immer am Tisch saßen.
Nicht nur die, die in Ministerien und Verkehrsbetrieben arbeiten.
Nicht nur die, die das Privileg haben, nicht auf Barrierefreiheit angewiesen zu sein.
Alle.
Und solange unsere Bühnen das nicht abbilden, reden wir nicht über Mobilität für alle.
Wir reden über Mobilität für einige.
Und das können wir uns nicht mehr leisten.


Schreibe einen Kommentar