Warum kommt die Verkehrswende so schleppend voran und wie können wir das ändern? Die Mobilitätsexpertin Katja Diehl hat in ihrem neuen Buch „Raus aus der Autokratie“ Antworten gefunden. Utopia hat mit ihr über Autoalternativen auf dem Land, Elterntaxis und das inspirierende Beispiel Paris gesprochen.
Utopia: Du fragst in deinem neuen Buch provokant, wie es so weit kommen konnte, dass der Deutschen liebstes Kind das Auto wurde und nicht – was naheliegen würde – das Kind. Inwieweit bevorzugen wir heute Autos vor unseren Kindern?
Katja Diehl: Wenn ich auf die Generation meiner Eltern schaue, haben diese noch eine Welt erlebt, in der Autos kaum präsent waren. Auch ich habe meine Kindheit auf dem Land verbracht, wo wir ohne elterliche Aufsicht unterwegs waren. Heutzutage ist dies in vielen Teilen Deutschlands undenkbar.
In alten Kinderbüchern wie den „Fünf Freunden“ unternahmen die Kinder sogar mehrtägige
Campingausflüge ohne erwachsene Begleitung. Heutige Kinder können sich das wahrscheinlich kaum noch vorstellen. Sie leben in einer Welt, die für Erwachsene gebaut worden ist – insbesondere für Autos und die schränken sie ein.
Der Begriff „Elterntaxis“ kritisiert, dass heute viele Kinder von ihren Eltern mit dem Auto zur Schule kutschiert werden. In deinem Buch nennst du die zugehörigen Zahlen: 1976 liefen noch 90 Prozent der Erstklässler:innen selbst zur Schule, 2018, gut 40 Jahre später, wurden 43 Prozent mit dem Auto gebracht. Letztlich führen Elterntaxis zu immer mehr Elterntaxis, weil die Schulwege immer unsicherer werden. Wie kommen wir da raus?
Natürlich sollten insbesondere Eltern sich dafür einsetzen, dass ihre Kinder eine eigene Mobilität erfahren können, ohne, dass ihnen immer nachgeschrien werden muss: Aber nur bis zur nächsten Ecke! Oder Achtung, Auto! Aber letztlich geht es hier um die Autodominanz im Allgemeinen: Wir müssen nicht sofort auf das Auto verzichten, aber wir sollten uns von unserer Abhängigkeit von ihm befreien.
„Die Autoprivilegien müssen weg“
„Raus aus der Autokratie“, das Wortspiel deutet an, dass deine Kritik am Auto weit über das gängige Problembewusstsein – Autos sind umweltschädlich – hinausgeht ..
Das deutsche Auto fährt durchschnittlich 45 Minuten am Tag, den Rest der Zeit steht es herum und besetzt öffentlichen Raum. Im beruflichen Pendelverkehr sitzen durchschnittlich nur noch 1,075 Personen im Auto. Autoreifen sind die größte Mikroplastikquelle der Welt, Straßenbau sorgt für Flächenversiegelung. An diesen Problemen ändert übrigens auch das Elektroauto nichts. Das Auto rechnet sich nur, weil alle Kosten externalisiert sind, weil wir das Dienstwagen-Privileg haben, weil wir großartige Leasing-Raten bekommen, usw. Das bezahlen wir alle als „Solidargemeinschaft Auto“, obwohl längst nicht alle Menschen Auto fahren. Das sollte die „Solidargemeinschaft Mobilität“ werden, wenn es nach mir geht.
Die Leute sagen mir oft, dann zeig doch nur die schönen Seiten. Wie toll in Zukunft die Städte werden und die ländlichen Räume. Die Wahrheit ist, dass die Autoprivilegien wegmüssen, sonst bekommen wir die tollen Räume nicht.
Auf dem Land geht es aber nicht ohne Auto – dem würden wohl die meisten Leute zustimmen. Wie können die Menschen dort ihre Autoabhängigkeit überwinden?
Ja, es ist kompliziert: Einerseits haben sich viele Menschen bewusst für das Auto entschieden, andererseits sind die ländlichen Strukturen oft nicht rad- oder fußgängerfreundlich. Dennoch gibt es Wege zur Veränderung.
Ich habe mich gefreut, dass letztes Jahr Carsharing total geboomt hat, und zwar nicht, wie alle immer sagen, in städtischen Räumen, sondern gerade auf dem Land. Das zeigt, dass alternative Mobilitätskonzepte auch hier ankommen.
Dieser Text ist ein überarbeiteter Auszug aus dem Utopia Changemaker Podcast.
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Viele Menschen schaffen sich inzwischen zusätzlich ein Elektroauto an. Das steht dann oft in der Garage, weil dort die Wallbox ist, wo man es laden kann. Aber für jede Person in den Haushalten ein Auto zu haben, ist Quatsch. Im ländlichen Raum sind 10 Prozent der Wege unter einem Kilometer und 50 Prozent der Wege unter fünf Kilometern. 75 Prozent der Wege sind innerörtlich. Da kann ganz viel Auto wegfallen.
Wenn wir dann weiterdenken, könnten wir das Familienauto behalten, es wird irgendwann voll elektrisch und vielleicht sogar von der eigenen Photovoltaikanlage geladen. Zweit- und Drittwagen müssen nicht mehr sein. Zusätzlich könnten Carsharing und E-Scooter im Privatbesitz nützlich sein. Ich sehe oft, dass Leute mit solchen Scootern die letzte Meile zum Bahnhof überwinden, weil es vielleicht keine gute Busverbindung gibt.
Paris gibt den Menschen den Raum zurück
Wie können Menschen diese Veränderung angehen, obwohl sie so schwerfällt?
Ein Tipp ist, Tagebuch zu führen, um festzuhalten, warum und wann man das Auto nutzt. Oftmals stellt man fest, dass viele Fahrten aus Bequemlichkeit gemacht werden. Dabei ist der erste Kilometer mit dem Verbrenner besonders problematisch, weil da viele Abgase entstehen. Diese Überlegung – will ich wegen meiner Bequemlichkeit in schlechter Luft leben? – kann motivieren, Alternativen zu nutzen.
Das bedeutet nicht, das Auto ganz abzuschaffen, sondern einfach neugierig zu sein und auszuprobieren, bestimmte Wege mal nicht mit dem Auto zu machen. Am Wochenende, wenn man keinen Stress hat, kann man damit anfangen und vielleicht sogar Vorteile entdecken – wie etwa eine gewisse Strecke mit dem E-Bike zurückzulegen und so auf den Gang ins Sportstudio zu verzichten.
Auch die meisten deutschen Städte tun sich mit der Verkehrswende noch schwer, die grünen Erfolgsgeschichten schreiben andere. In deinem Buch heißt es: „Paris ist die Stadt, die wohl gerade am radikalsten den Raum den Menschen zurückgibt, der zuvor exklusiv dem Auto gegeben wurde“. Wie macht Paris das?
Paris hat mit Anne Hidalgo eine Bürgermeisterin, die einfach das Richtige tut und die bestimmte Dinge als nicht verhandelbar anerkennt. Sie hat im Wahlkampf gesagt, dass sie Paris den Menschen zurückgeben, dass sie Paris grüner machen und zur neuen Stadt der Nähe machen will. Bildung, Kultur, Ärztinnen, Einkaufen, Hobbys, alles soll innerhalb von 15 Minuten erreichbar sein.
Nach ihrer Wahl hat sie diesen Weg gesetzlich verankert, sodass nachfolgende Politiker:innen nicht alles so einfach wieder umwerfen könnten, wie es zum Beispiel in Berlin passiert ist. Alle paar Monate gibt es in Paris Neuerungen, über die man einfach nur staunen kann. Inzwischen pendeln mehr Menschen mit dem Fahrrad als mit dem Auto nach Paris. Es bräuchte Politiker:innen, die das kopieren, was Anne Hidalgo macht.
Verkehrswende: „Leute, wo wart ihr?“
Der Bundesverkehrsminister muss seit der kürzlichen Reform des Klimaschutzgesetzes nicht mal mehr die Klimaziele für seinen Bereich erreichen …
Ich hatte gehofft, mit meinem ersten Buch „Autokorrektur“, einen Perspektivwechsel bei Entscheidungsträger:innen anzustoßen. Ich wollte ihre Empathie wecken, indem ich aufzeigt habe, dass Menschen durch das Autosystem immobil gemacht und ausgeschlossen werden. Damit ging es mir nicht nur und auch nicht speziell um den Bundesverkehrsminister oder ähnliche Ämter, sondern auch um leitende Positionen in großen Unternehmen.
Diese könnten sich zum Beispiel dafür einsetzen, dass es im Betrieb nicht nur Dienstwagen für einige, sondern Jobräder für viele oder ein Mobilitätsbudget für alle gibt. Oder dafür, dass Mitarbeiter:innen belohnt werden, die mit dem Rad kommen. Aber immer, wenn es darum geht, solche Dinge in großem Stil anzustoßen, hat man es mit Strukturen zu tun, wo Männer an der Macht sind, die alle Auto fahren. Auch der Bahn-Vorstand war in den letzten Jahrzehnten nicht gerade von Menschen geprägt, die total Bahn sind. Für mich ist das eine extrem ungleiche Machtverteilung, die auf allen Ebenen das Vorherrschen des Autos manifestiert.
Was ist dein Appell an die Menschen, damit die Mobilitätswende gelingt?
Die Menschen, denen das Autoleben sehr gut passt, verteidigen das sehr stark und gucken oft nur auf ihren eigenen Teller. Ich würde mir wünschen, dass sie ihre Verantwortung wahrnehmen, für andere etwas Besseres zu schaffen.
An die Unterstützer:innen der Mobilitätswende: Bildet Banden. Ich habe für mein Buch auch mit dem Verkehrsminister von Gent, Filip Watteeuw, gesprochen. Als er die Stadt autofrei gemacht hat, musste er sechs Wochen mit seiner Familie an einem geheimen Ort leben, weil er abgefeuerte Patronenhülsen geschickt bekommen hat. Er hat mir erzählt, dass er bei seiner ersten Radtour durch das neue Gent nur darauf gewartet hat, bis der erste Farbbeutel fliegt. Und dann standen alle am Straßenrand und sagten, gut gemacht, Daumen hoch! Er hielt mit seinem Fahrrad an und sagte: Leute, wo wart ihr?
Raus aus der Autokratie – rein in die Mobilität von morgen!
Die Mobilitätsexpertin und Bestseller-Autorin Katja Diehl beschäftigt sich in ihrem zweiten Buch mit den gesellschaftlichen Herausforderungen der Verkehrswende. Warum geschieht nichts? Warum kommen wir nicht voran, obwohl wir das Wissen für eine nachhaltige Mobilität besitzen? Welche Rolle spielen Industrie, Politik und Medien? Katja Diehl führt Gespräche mit zahlreichen Expert:innen und Gestalter:innen, die bereits an der Transformation arbeiten. „Raus aus der Autokratie“ ist ein unverzichtbares Buch für Menschen, die in einer nachhaltigen Welt leben möchten.
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